Arbeitszeitflexibilisierung und Digitalisierung
Die Berichte über die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsgewinne Deutschlands überschlagen sich. Seitdem durch die Finanzmarktkrise 2009 erzeugten Absturz der Wirtschaft um 5 Prozent sind Jahr für Jahr Zuwächse bei der gesamtwirtschaftlichen Produktion zu verzeichnen. Der Vergleich mit den „Wirtschaftswunderjahren“ ohne das lästige konjunkturelle Auf und Ab wird bereits gezogen. Eigentlich verdienen dafür die Beschäftigten ein riesiges Kompliment. Schließlich sind sie es, die den Refrain der Songgruppe „Geier Sturzflug“ Wirklichkeit werden lassen: „Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt. Wir steigern das Bruttosozialprodukt“. Nein, Unternehmensverbände sowie die ihnen nach-stehenden Parteien und Wirtschaftswissenschaftler beschwören ein Hindernis: Starre Arbeitszeiten vor allem durch das Arbeitsgesetz und tarifliche Arbeitszeitregulierungen. Gegenüber der durch unternehmensgetriebene Flexibilisierung geprägten Wirklichkeit ein Fall von Fake News. Während in der Metall- und Elektroindustrie die 35-Stundenwoche gilt, arbeiten 34,3 % bis zu 39 Stunden, über 40 Stunden 26,6 % Vollzeitkräfte. Auch das Arbeitsgesetz mit der Begrenzung auf maximal 48-Wochenstunden, dem bereits aufgeweichten 8-Stundentag und der Ruhezeit von 11 Stunden innerhalb 24 Stunden verliert an Wirkung. Ohne die brutale Wirklichkeit des sich aufdröselnden Normalarbeitsverhältnisses hat die Vierer-Mehrheit des „Sachverständigenrats“ zur Demontage des Arbeitszeitgesetzes im jüngsten Jahresgutachten aufgerufen. Dabei fällt die gleichlautende Argumentation zwischen dem Ratsvorsitzenden Christoph Schmidt und den Arbeitgeberverbänden auf. Wohl auch wegen der aktuell guten Konjunktur muss die Digitalisierung zur Rechtfertigung der Arbeitszeitflexibilisierung herhalten. Niemand bestreitet, alle Bereiche der Wirtschaft, der Politik sowie der Gesellschaft ändern sich unter dem Druck aus der Bit- und Byte-Welt. Die Gewerkschaften sind in dieser Frage hoch sensibilisiert. Aber warum durch die Digitalisierung die Arbeitszeit im Dienst der Profitmaximierung noch mehr flexibilisiert werden soll, wird nicht begründet. Nachdem sich die Globalisierung ausgedient hat, wird die Digitalisierung zum neuen sprechblasenhaften „Sachzwang“ gekürt. Es geht also nicht um die gerechte Verteilung der ökonomischen Vorteile, sondern die Vorabsicherung von möglichen Extraprofiten aus der Digitalisierung durch die Unternehmenswirtschaft.
Gegenüber den Unternehmensverbänden zusammen mit der sie unterstützenden Wirtschaftswissenschaft stellt sich doch die Frage nach den harten Bedingungen der abhängig Beschäftigten, die die gesamtwirtschaftlichen Erfolgsmeldungen möglich machen. Wie auch immer die technologisch digitale Dynamik wirkt, die Basis der ökonomischen Wertschöpfung ist und bleibt die Arbeit. Nach den vielen Studien und Erfahrungsberichten aus den Betrieben von den Interessenvertretern und ihren Gewerkschaften sind die individuellen Belastungen der Beschäftigten in den letzten Jahren massiv gestiegen. Hohe Verfügbarkeit, ausufernde Arbeitszeit und billige Arbeitsverhältnisse haben den Stress und gesundheitliche Belastungen massiv erhöht. Dazu kommt noch die Sorge, nach dem durch Unternehmen verordneten Verlust des Jobs künftig über den Hartz IV-Zwang in billige, abgewertete Jobs abgedrängt oder arbeitslos zu werden. Wie gesagt: Der profitwirtschaftliche Wohlstand basiert auf einer Überschreitung der Belastungsgrenzen. Dazu trägt auch die Digitalisierung der Produktion bei. Deshalb müssen die Arbeitsverhältnisse dringend weiter humanisiert werden. Der Staat hat für einen klaren und einklagbaren Rahmen der Arbeitszeiten zu sorgen. Andererseits obliegt der Tarifpolitik die Aufgabe, stärker Arbeitszeitwünsche zur Erhöhung der Zeitsouveränität zu berücksichtigen. Die IG Metall schlägt mit ihren tarifpolitischen Forderungen nach einem möglichen Ausstieg aus der 35-Stundenwoche für zwei Jahre auf 28 Stunden und dem Rückkehrrecht mutig einen neuen Weg der Arbeitszeitpolitik ein („individueller Anspruch auf kurze Vollzeit“). Die Flexibilisierung wird dem Diktat der Unternehmen entrissen und als Instrument zur souveränen Zeitgestaltung der Beschäftigten eingesetzt. Bei Vereinbarkeit mit familiären Anforderungen (Kinder, Pflege) und zur Abwehr gesundheitlicher Belastungen vor allem durch Schichtarbeit gibt es einen Zuschuss. Sicherlich bleibt das Ausmaß des Lohnausgleichs noch strittig. Endlich wird jedoch die Tatsache, dass die 35-Stundenwoche in der Elektro- und Metallindustrie kaum noch prägend ist, anerkennt. Es geht auch um eine kollektive, vertragliche Sicherung der Nutzung von Zeitsouveränität nach den Bedürfnissen der Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben. Mit der Digitalisierung stellt sich weiterhin die Aufgabe, die neuen Formen der Ausbeutung vor allem durch kostensparende Arbeitszeitflexibilisierungen gesetzlich und tarifvertraglich zu vermeiden.