Karl Marx: 150 Jahre "Das Kapital"
Vor 150 Jahren, am 14. September 1867, ist der erste Band „Das Kapital“ im Otto Meißner-Verlag in Hamburg erstmals erschienen. Heute zählt dieses Werk, dessen Bände zwei und drei Friedrich Engels posthum herausgegeben hat, zum UNESCO- Kulturerbe. Es gibt keinen anderen Autor, der die Bewegungsgesetze des Kapitalismus derart radikal, d.h. an die Wurzel gehend, dechiffriert hat. Wie die Berichte selbst in den Provinzzeitungen zu diesem Kapital-Jubiläum zeigen, ist das Interesse an der Frage, wie kann mit Marx heute die Klärung von Widersprüchen und Ungerechtigkeiten betrieben werden, riesig. Das wird auch im kommenden Jahr an seinem 200sten Geburtstag zu beobachten sein.
Die Fundamentalkritik am Kapitalismus, der durch Ausbeutung, Verelendung und langfristigem Zusammenbruch geprägt ist, konnte auch durch seine bitteren Gegner nicht ausgemerzt werden. Dabei haben die sozialistisch-kommunistisch geprägten Länder wie die DDR, die Sowjetunion und China ihn zu ihrem Säulenheiligen erhoben. Die machtvolle Instrumentalisierung ging so weit, dass ein überzeugter Marxist, der der Herrschaftslehre widersprach, mit Diskriminierung rechnen musste. Auch diese Vereinnahmung hat seine Kapitalismus-Anatomie überstanden.
Die Dominanz von Marx hat zweifellos ihren Grund in der Tatsache, dass er die Ursachen der kapitalistischen Systemfehler benannt hat. Dabei hat Marx, wie er selbst in einer Kritik an dem Kathedersozialisten Adolph Wagner in seinen „Randglossen“ festhielt, nicht ein sozialistisches System entwickeln wollen, war also in diesem Sinne kein Marxist. Wie er selbst festgestellt hat: „Der letzte Endzweck dieses Werks ist es, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen.“ Dazu betrieb er die Kritik der ihn damals umzingelnden Politischen Ökonomie. An Smith, Ricardo, aber auch den „Speichelleckern“, den Sykophanten und den Produzenten von Herrschaftswissen hat er sich abgearbeitet. Heute wären das die Neoklassiker und Neoliberalen wie Hans-Werner Sinn, der allerdings Marx ob seiner Aktualität zum Teil lobt.
Die nicht immer runden Meilensteine seiner Kapitalismusanatomie, die ihm nach wie vor die Aktualität sichern, sind:
1. Beschrieben wird der Kapitalismus als ein System auf der Basis der Ausbeutung. Die vom Lohn abhängigen Beschäftigten produzieren den Mehrwert, schaffen also Mehr an Wert als ihre Arbeit entlohnt wird. Entscheidend ist die systemische Abhängigkeit der auf Arbeitseinkommen Angewiesenen vom unternehmerischen Investitionsmonopol. Diese Abhängigkeit zeigt sich heute in anderen Formen, ihre Grundstruktur dominiert jedoch nach wie vor. Die Instrumentalisierung dieser Abhängigkeit durch die Hartz IV-Gesetze lässt sich durchaus mit Marx kritisieren. Welche Arbeit zu welchen Bedingungen dominiert, das wird durch das profitwirtschaftliche Kalkül bestimmt. Wer Arbeit haben will, der muss eben den Preis prekärer Arbeit ertragen. Die Politik setzt dafür die Bedingungen, ist also zutiefst antidemokratisch. Mit Marx lässt sich die Agenda 2010 vortrefflich kritisieren.
2. Mit dem tendenziellen Fall der Profitrate beschreibt Marx einerseits die kapitalismusimmanent erzeugte Überakkumulation. Auch bei John Maynard Keynes findet sich der Nachweis dafür, wie einzelwirtschaftliche Profitsuche gesamtwirtschaftlich zum Niedergang führten kann. Das Bild der Rationalitätsfalle führt Marx ein. Der Kapitalismus ist zwar nicht zusammengebrochen. Immer wieder durchlief er Anpassungsprozesse. Aber die Theorie, dass das System sich aus eigener Kraft zum „Wohlstand für alle“ bewegt, steht als Herrschaftsideologie im Widerspruch zur kapitalistischen Realität.
3. Marx Faszination für die technische Fortschrittsdynamik des Kapitalismus fällt auf. Mit großem Interesse hat er in der Nationalbibliothek in London die Berichte über die Industrialisierung der Arbeit durch den technischen Fortschritt gelesen. Marx wollte diese Produktivkraftdynamik innerhalb der von Ausbeutung befreiten Produktivitätsverhältnissen zum Blühen bringen. Die Destruktionskräfte in Richtung Zerstörung der Umwelt hat er wohl trotz einiger wichtiger kritischer Hinweise unterschätzt.
4. Spannend ist die Tatsache, dass sich die Aktualität von Marx vor allem auf den dritten Band des Kapitals bezieht. Der ist (leider) auch von Marx-Fans kaum gelesen worden. In der durch Engels posthum bestellten Ausgabe wird die Entwicklung zum heute aktuellen kasinohaften Finanzmarktkapitalismus beschrieben. Die Finanzmärkte entkoppeln sich von der realen Produktionswirtschaft, die sie zugleich zu beherrschen versuchen. Dass es immer zu platzenden Blasen mit systemischer Wirkung kommt, wird herausgearbeitet.
Marx studieren ist sicherlich die Voraussetzung für das Verständnis des Kapitalismus. Aber erst die politisch-praktische Opposition gegen die machtvoll starr gehaltenen gesellschaftlichen Verhältnisse kann die kapitalistische Logik durchbrechen. Denn Marx zeigt auch, dass Demokratie und radikale Profitwirtschaft ein in sich unauflösbarer Widerspruch darstellten. Nicht die Vermarktung der Demokratie à la Merkel, sondern die Demokratisierung der Wirtschaft zum Abbaus von strukturell Abhängigen sind gefordert.
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Die drei Bände „Das Kapital“ herausgegeben und interpretiert von Rudolf Hickel, westdeutsche Ausgabe im Ullstein-Verlag:
Karl Marx, Das Kapital I: Der Produktionsprozess des Kapitals (mit einem durch
den Herausgeber empfohlenen Geleitwort von Karl Korsch, betreut von Rudolf Hickel)
Ullstein-Verlag, Frankfurt a.M. / Berlin 1969 (mit nachfolgenden Auflagen);
Karl Marx, Das Kapital II: Der Zirkulationsprozess des Kapitals (mit einer Leseanleitung
und Textauswahl von Rudolf Hickel) Ullstein-Verlag, Frankfurt a.M. / Berlin 1970;
Karl Marx, Das Kapital III: Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion (mit
einem Nachwort von Harald Gerfin und Rudolf Hickel)
Ullstein-Verlag, Frankfurt a.M. / Berlin 1971