50 Jahre Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
Am 8. Juni 1967 ist das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG)“ in Kraft getreten. Rechtlich gilt es bis heute, es wird jedoch schon lange nicht mehr explizit angewendet. Mit dieser „Magna Charta“ der Wirtschaftspolitik wurde erstmals in Deutschland der Gesamtstaat zur Bekämpfung von wirtschaftlichen Fehlentwicklungen wie Rezession, Inflation und Arbeitslosigkeit in die Pflicht genommen. Diese stark durch Karl Schiller geprägte Globalsteuerung ist eine deutsche moderate Variante der Lehre von John Maynard Keynes: Wenn der einzelwirtschaftliche Investor alles richtigmacht, kann gleichsam hinter seinem Rücken die Gesamtwirtschaft versagen. Das Zauberwort für Maßnahmen gegen diese gesamtwirtschaftliche Falle durch den Staat heißt Globalsteuerung auf der Basis der markt-wirtschaftlichen Ordnung.
Nach den wirtschaftswunderlichen Expansionsjahren mit der „Illusion der immerwährenden Prosperität“ hat die erste, allerdings aus heutiger Sicht Minirezession vergleichbar dem Sputnikschock Ängste ausgelöst. Das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt schrumpfte nach einem Zuwachs 1966 um 2,3% und dann 1967 um 0,5%. Dahinter stand ein Rückgang der Ausrüstungsinvestitionen um knapp 13%. Selbst die aus heutiger Sicht niedrige Quote registrierter Arbeitslosigkeit mit 2,5% im Frühjahr 1967 mobilisierte Erinnerungen an die Arbeitslosigkeit Ende der 1930er Jahre, die überwunden schien. Intensive Aktivitäten in der Politik und der beratenden Wirtschaftswissenschaft waren die Folge. In seinem Jahresgutachten 1967/68 unter dem Titel „Stabilität im Wachstum“ schrieb der „Rat der fünf Weisen“ unter Federführung des genialen Nestors der Wirtschaftswissenschaft Herbert Giersch das ordnungspolitische Bekenntnis: „Das Schwinden der ´industriellen Reservearmee´ nach der Entdeckung der Vollbeschäftigungspolitik hat … in diesem Sinne fast den Charakter einer gesellschaftspolitischen Revolution, vor allem wenn man die Gegenwart mit der Zeit vor hundert Jahren vergleicht“. Geschaffen wurde auf der Basis neuer Erkenntnisse zur makroökonomischen Steuerung ein Instrumentarium der Globalsteuerung im Dienste eines Vollbeschäftigungskapitalismus. Die schnelle Handlungsbereitschaft kann man sich heute nur wünschen. Mit zwei vergleichsweise geringen öffentlichen Investitionsprogrammen (7,8 Mrd. DM; erste Programm 2,6 Mrd. DM; zweites Programm 5,2 Mrd. DM, auch mit gezielter Unterstützung der Kommunen) konnte die Minirezession zusammen mit Exportzuwächsen schnell abgewendet werden. Die Gesamtwirtschaft schwenkte bereits in der ersten Hälfte 1968 auf eine Wachstumsrate von 4% ein. Nur noch in den neunzehnhundertsiebziger Jahren ist das Instrumentarium angewendet worden. Die Globalsteuerung stand auch bei dem erfolgreichen „Zukunftsinvestitionsprogramm (ZIP)“ von 1978 Pate. Zur „wachstums- und umweltpolitischen Vorsorge“ wurden 16 Mrd. DM durch den Bund zur Verfügung gestellt. Die Kommunen konnten Projektanträge, die der Umweltverbesserung dienen. Aber selbst in der Schuldenbremse, die den Ländern komplett die Kreditfinanzierung von Staatsausgaben verbietet, sind Elemente des Stabilitätsgesetzes erhalten geblieben. Anerkannt wird der konjunkturell verursachte Anteil der Nettokreditaufnahme. Diesen abzubauen, würde die Konjunktur schwächen. Ohne allerdings das Gesetz beim Namen zu nennen. Nach dem Absturz der Gesamtwirtschaft 2008 um knapp 5% im Gefolge der weltweiten Finanzmarktkrise in Deutschland wurde 2009 durch zwei Konjunkturprogramme zusammen mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen (Verlängerung der Kurzarbeitergeldregelung) die Wirtschaftskrise schnell überwunden. Das Stabilitätsgesetz lässt grüßen.
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz ist von der Idee der gesamtwirtschaftlichen Verantwortung des Staates her nach wie vor richtig. Allerdings müssen Widersprüche und naive Unterstellungen abgebaut sowie vor allem Zielerweiterungen im Rahmen der Gesetzesreform realisiert werden.
- Naiv ist die Verpflichtung des Gesetzes, die vier genannten Ziele „gleichzeitig“ zu realisieren: „Stabilität des Preisniveaus, zu hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum“. Massive Zielunvereinbarkeiten sind unübersehbar. Klassiker wurde das Problem des Menus Preisstabilität und hohe Beschäftigung. Beide Ziele sind, wie die Phillipskurve zeigt, nicht gleichzeitig mit ein und demselben Instrumentarium zu haben. Die Inflationsbekämpfung allein durch die Deutsche Bundesbank kostete viele Arbeitsplätze. Im Laufe der Jahre hat sich die Rangfolge mit dem am stärksten verfehlten Ziel an Platz 1 herausgebildet. Nach dem starken Inflationsanstieg Anfang der neunzehnhundertachtziger Jahre ist die Inflation durch die Deutsche Bundesbank aus dem Zielkatalog entfernt und zu ordnungspolitischen Rahmenbedingungen außerhalb des Zielstreits erkoren worden. Heute steht auf der Rangliste der Zielverfehlungen an Platz 1 das massiv verletzte „außenwirtschaftliche Gleichgewicht“ (2016 Anteil des Leistungsbilanzüberschusses am Bruttoinlandsprodukt bei über 8%). Gegen dieses Zieldefizit richtet sich die bereits schon im Globalisierungsgesetz von 1967 angelegte Stärkung der Binnenwirtschaft durch öffentliche Investitionen und die Ausweitung der Lohnsumme auch durch den Abbau prekärer Arbeit.
- In dem auf die Gesamtwirtschaft konzentrierten Rahmen fehlt das Ziel zur ökologischen Nachhaltigkeit. Der Zielkonflikt zwischen gewinnwirtschaftlich getriebenem Wirtschaftswachstum, dessen Angemessenheit im Gesetz von 1967 nur auf die Inflationsvermeidung ausgerichtet war, liegt auf der Hand. Deshalb hat Juli 1990 die Fraktion der GRÜNEN einen Entwurf zur Novellierung durch das „Gesetz für eine ökologisch-soziale Wirtschaft (Förderung der umwelt- und sozialverträglichen Entwicklung der Wirtschaft — GösW) vorgelegt. Die Basis bildete eine Studie von Jan Priewe und Rudolf Hickel.*) In dem Entwurf sind auch die Schrumpfung stark ökologisch belastender Produktionsbereiche und Produkte vorgesehen. Auch sollten Informationssysteme aufgebaut und der „Sachverständigenrat für gesamtwirtschaftliche Entwicklung“ um ökologische Kompetenz ausgebaut werden. Dabei wurden eigenständige ökologische Instrumente wie die Öko-Steuer und der Emissionshandel nicht aufgenommen.
- Die heutige Herausforderung wachsender sozialer Spaltung vor allem durch die Einkommens- und Vermögensverteilung sowie der ungleich verteilten Chancen zur Teilhabe fand in dem Gesetz von 1967 keine Berücksichtigung. Versuche, die soziale Gerechtigkeit in ein Globalsteuerungsgesetz aufzunehmen, hat es nicht gegeben. Damit steht der Auftrag, die Verteilungsfrage einzubauen. Denn der negative Einfluss ungerechter Verteilung auf das wirtschaftliche Entwicklungspotenzial muss als Zielkonflikt berücksichtigt werden.
- Das Stabilitätsgesetz geht naiverweise von einer Trennbarkeit des wirtschaftlichen Wachstumstrends und der zyklischen Bewegung aus. Entwickelt sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage unterhalb der Produktionskapazität (Angebot), dann muss der Staat antizyklisch durch schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme und entsprechende Steuerpolitik eingreifen. Im Fall einer die Inflation treibenden Überschussnachfrage steht beim Staat auf der Agenda: Ausgaben zurückfahren und die Steuersätze erhöhen. Nach dem Modell werden Kredite zur Steigerung der Staatsausgaben eingesetzt, jedoch nach gelungenem Aufschwung wieder zurückgeführt. Faktisch zeigt sich jedoch, dass die Staatsschulden relativ unabhängig vom Konjunkturzyklus im Trend gestiegen sind. Darüber hinaus werden strukturelle Veränderungen, die die Konjunktur beeinflussen, ausgeklammert. Dazu kommt das sich im Trend verlangsamende Wirtschaftswachstum, die dadurch abschwächende Zyklusdynamik sowie die im Trend niedrigen Inflationsraten in der Nähe der Deflationsgefahr.
- Wie die Finanzmarktkrise brutal gezeigt hat, werden durch dortige Fehlentwicklungen Instabilitäten ausgelöst. Nicht das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, sondern die Instabilität dominiert. Das reformierte Stabilitätsgesetz muss durch Maßnahmen zur Stabilisierung der Finanzmärkte ergänzt werden.
Hierzu zählen die Regulierungen des Finanzmarktsystems, insbesondere die Bankenunion.
Es lohnt sich, diese Variante deutscher Antikrisenpolitik à la Keynes auf der Basis der hier genannten und weiteren Reformen in der Wirksamkeit zu stärken. Die Bundesregierung hat 2013 in ihrem Regierungsprogramm sowie in ihrem Jahreswirtschaftsbericht von 2014 eine Überarbeitung dieses Stabilitätsgesetzes zusammen mit dem „Rat der fünf Weisen (SVR)“ angekündigt. Der „Rat der fünf Weisen“ sah dagegen in einem Arbeitspapier vom Dezember 2015 „keine Notwendigkeit einer Reform des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft.“ Diese große Koalition hat ihre Zusage zur Reform des Gesetzes nicht mehr weiterverfolgt. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gilt immer noch den Marktfundamentalisten als Todsünde durch staatlichen Interventionismus. Mit der Austeritätspolitik, die auf den Rückzug des Staates auf der Einnahmen- und Ausgabenseite setzt, wird eine innovativ-dynamische Entwicklung der Wirtschaft nicht gefördert, sondern belastet. Der Staat braucht gesamtwirtschaftliche Handlungsmöglichkeiten, die er jedoch rational nutzen muss. Diese Idee der wirtschaftlich unterfütterten Globalsteuerung von 1967 verliert durch die Internationalisierung nicht an Relevanz. Im Gegenteil, zumindest die EU sollte mit einer gemeinsamen Agenda die ökonomische, soziale und ökologische Entwicklung stärken.
Im fünfzigsten Geburtsjahr dieses Gesetzes staatlicher Verantwortung für die soziale und ökologische Gesamtverantwortung ist eine Runderneuerung zu wünschen. Ein mittelfristig ausgerichtetes Zukunftsinvestitionsprogramm mit den Schwerpunkten ökologische und soziale Infrastruktur vereint die geniale Grundidee mit den heutigen Herausforderungen. Dieses Stabilitätsgesetz 2.0 lässt sich innerhalb der EU vergemeinschaften.
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* Dieser Gesetzentwurf basiert auf einer Studie mit einem Gesetzesvorschlag von
Rudolf Hickel / Jan Priewe; vgl. PIW-Studie Nr. 5, Bremen 1990
Siehe auch den Beitrag:
Rudolf Hickel / Jan Priewe, Aufstieg und Fall des Stabilitätsgesetzes – Notwendigkeit
einer
Alternative; in: Eckhard Stratmann-Mertens /
Rudolf Hickel / Jan Priewe (Hg.), Wachstum – Abschied von einem Dogma – Kontroverse
über eine ökologisch-soziale Wirtschaftspolitik;
Frankfurt a.M. 1991