Zivilisationskrise: Postfaktisch
Das Wort des Jahres „postfaktisch“ ist ein sperrig klingendes Kunstwort. Bereits 2004 beschrieb Ralph Keynes in seinem Buch „The Post-Truth Era“ dieses für die Gesellschaft brandgefährliche „Zeitalter nach der Wahrheit“. Vornehm formuliert wird mit Behauptungen, die nicht belegbar sind, auf allen Ebenen der Politik, vor allem gegen die vermeintlichen Gegner betrieben. Weniger vornehm formuliert handelt es sich um Lügen, mit denen vor allem aggressive Stimmungen gegen das abgehobene Establishment erzeugt werden sollen. Der großartige Gesellschaftsphilosoph Jürgen Habermas führte schon vor Jahren das präzisiere Adjektiv kontrafaktisch für Behauptungen ohne Wahrheitsbasis ein.
Dass in der Politik und in öffentlichen Disputen gelogen wird und dass immer schon wirklichkeitsgestörte Spinner ihre abstrusen Thesen verbreiten konnten, ist nichts Neues. Was ist neu und gefährlich an dem Zeitalter der Verbreitung der Unwahrheiten? Mit Halbwahrheiten und Lügen über wichtige gesellschaftliche, soziale, aber auch ökologische Herausforderungen werden neuerdings Wahlkämpfe erfolgreich gewonnen. Ziel ist die personalisierte Denunziation der Gegner in der politischen Auseinandersetzung. Neu ist aber auch die Möglichkeit, diese antifaktische Hetze über die sozialen Medien wie Facebook und Twitter zu vermassen. Bei diesen Brandbeschleunigern sind derzeit der Verletzung der im Grundgesetz fixierten Persönlichkeitsrechte kaum noch Grenzen gesetzt.
Die Beispiele für den Erfolg dieser enthemmten Volksverdummung sind sattsam bekannt. Da gibt es Donald Trump, der damit die Präsidentschaftswahlen in den USA gewonnen hat sowie der mit knapper Mehrheit in Großbritannien beschlossene Brexit. Auch die rechtspopulistische AfD in Deutschland setzt im großen Stil kontrafaktische Behauptungen zur Erzeugung von Aggressionen und Diskriminierungen von gesellschaftlichen Gruppen ein.
Dabei gibt es unterscheidbare Instrumente der verächtlichen Meinungsmanipulation: Im Zentrum stehen schlechthin Halbwahrheiten und komplette Lügen. Trump war im Wahlkampf ein Meister beim Einsatz dieses Instruments. Abstruse Bedrohungen durch Migranten und sozial Schwache wurden geschürt. Ökonomisch geht es mit gezielt falschen Behauptungen darum, die nationale Abschottung der USA zugunsten „America first“ durchzusetzen. Dabei werden die Verlierer dieser Rückkehr zum US-Imperialismus im eigenen Land bewusst unterschlagen. Der knappe Erfolg für den Brexit ist ebenfalls nur durch Lügen geschürte Ängste über die „teure“ und „manipulierende“ EU zu verstehen. Beliebt ist auch der Induktionsschluss nach dem Motto: Wenn einige Migranten straffällig werden, dann wird daraus die Parole, alle Flüchtlinge sind kriminell. In der fatalen Logik der Trumpschen Ökonomik, der Trumponomics, geht es der Gesellschaft gut, wenn die einzelnen Unternehmen ihre Profite mehren. Im postfaktischen Zeitalter werden auch Fehlschlüsse eingesetzt. Beliebtes Instrument in der Trumponomics sind Trugschlüsse. So sollen sinkende Steuersätze für die Unternehmen insgesamt die Steuereinnahmen mehren. Kommt der erhoffte Wirtschaftsimpuls jedoch nicht zustande, weil die Unternehmen mangels unterfinanzierter Infrastruktur nicht investieren, dann führen diese Steuergeschenke am Ende zu sinkenden Staatsausgaben oder zu steigenden Staatsschulden.
Die Frage stellt sich dringender denn je, wie diese mit postfaktischen Behauptungen vernebelte Politik durchbrochen werden kann. Dabei ist wichtig, die eigentlich Ursache liegt nicht in den sozialen Medien. Diese werden nur medial zur massenhaften Verbreitung von Lügen eingesetzt. Die Quelle des Kontrafaktischen ist der aufgestaute Frust über die Politik derer „da oben“. Es ist die autoritär verbreitete „politische Korrektheit“, die die postfaktische Ära mit erzeugt hat. Denn bei vielen positiven Leistungen, oftmals steht die durch die offizielle Politik gestanzte Rechtfertigung im Widerspruch zu den Fakten. Wenn beispielsweise in der offiziellen Politik die Tatsache, dass arme Kinder im Bildungssystem benachteiligt werden, geleugnet wird, dann ist das der Humus für den propagandistischen Vorwurf einer „Lügenpolitik“. So soll im neuen Armutsbericht für Deutschlandnach der Lesart der Bundesregierung zusammen mit der Bundesarbeitsministerin diese Wahrheit nicht aufgenommen werden. Die Politik muss endlich die real existierenden Verhältnisse beim Namen nennen und zeigen, wie diese nachweislich zu bekämpfen sind. Denn die rechtspopulistischen Kritiker missbrauchen die Ängste der von denen „da oben“ nicht wahrgenommenen Benachteiligten. Das soziale Elend wird medial ohne die erkennbare politische Absicht, etwas dagegen zu tun, instrumentalisiert. Die Not der Betroffenen wird politisch missbraucht. Das Dilemma zwischen der Venebelung der Wahrheit durch „politische Korrektheit“ und der Instrumentalisierung durch antidemokratische Kräfte kann nur durch eine an Aufklärung und Diskurs ausgerichteten Politik durchbrochen werden. Nur so wird den sozialen Medien der Stoff entzogen. Zu allererst müssen die sozialen Medien endlich den Schutz der Persönlichkeit sicherstellen.