Stillstand – made in Germany – Eine Buchbesprechung
Mit grün-gerechter Transformation in ein anderes Deutschland
Die Partei der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist nach ihrem schlechten Ergebnis bei der letzten Bundestagswahl wegen ihrer verpassten Chance an einer Regierungsbeteiligung tief erschüttert. Die Suche nach einer auch durch die Wähler und Öffentlichkeit akzeptieren Neupositionierung ist voll im Gang. Zum heftigen Streit über die Ursachen der GRÜNEN in dieser Orientierungskrise sowie über die künftige politische Strategie kommt das Buch von Jürgen Trittin genau zur rechten Zeit. Die doppelte, geradezu janusköpfige Rolle Trittinsmacht die Publikation interessant. Einerseits steht er für viele Jahre erfolgreicher Politikgestaltung sowie Regierungsbeteiligung ebenso wie für das Wahlprogramm, dem die Verluste bei der Bundestagswahl angerechnet werden. Andererseits wird seine Erfahrung und analytische Fähigkeit gebraucht, um BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ökologisch, ökonomisch und sozial zukunftsfähig zu machen. Schließlich stigmatisieren heute prägende Leitfiguren die auch durch Trittin im Wahlprogramm geforderte gerechte Steuerlastverteilung durch eine Vermögensabgabe und Vermögensteuer sowie einen deutlich höheren Spitzeneinkommensteuersatz zusammen mit dem Abbau von Steuerprivilegien und Steuerbetrug. Die Antwort von Jürgen Trittin ist seine Kritik am blockierten Zustand der Republik sowie sein Entwurf einer konkreten Utopie eines anderen, ökologisch und sozial besseren Landes. Der an sich allgemein gehaltene Text liest sich jedoch zwischen den Zeilen wie ein meinungsstarkes Manifest für die interne Parteidiskussion.
Trittin versteht es, die Ursachen und Folgen des „Stillstands“ Deutschland in die weltweite Entwicklung unter der gewinnwirtschaftlich getriebenen Globalisierung, die spaltend wirkt, zu verorten. Zu Recht fallen die Aufmerksamkeit erheischenden Überschriften auch weltumspannend aus: „Auf Dauer nur sauber: 9 Milliarden Menschen auf einem Planeten“ sowie „Auf Dauer nur gerecht: 9 Milliarden Menschen auf einem Weltmarkt“. Dennoch gelingt es ihm, mit vielen wichtigen Details die derzeit unterschätzte Verantwortung dieses Stillstand-Deutschlands im internationalen Zusammenhang auf EU- und Weltebene zu skizzieren. Triebkraft der Fehlentwicklungen sowie zugleich Ausgangspunkt für die Alternative ist das ökonomische, soziale und ökologische Zerstörungspotenzial „des globalisierten und entfesselten Kapitalismus“. Gegenüber linksradikalen Simplifizierungen betont Trittin zu Recht die Vielfalt der Kapitalismusvarianten. Wie sein Konzept für ein „anderes Land“ fundiert offenlegt, der Kapitalismus ist mit ordnungspolitisch gewollten und kontrollierten Rahmenbedingungen für die Wettbewerbswirtschaft und einen ausreichend finanzierten Interventionsstaat gestaltbar.
Dieser Offenbarung eines ordnungspolitisch gestalteten Kapitalismus, der den Mittelstand und die Politik vor konzentrierter Unternehmensmacht schützt, steht die Beschreibung Deutschlands als Stillstandland gegenüber. Die brandgefährlichen, den Status quo zementierenden Blockierer werden kenntlich gemacht: Die Wirtschaft mit ihren kurzsichtigen Wirtschaftsverbänden, die skrupellos agierenden Lobbyisten sowie die vorherrschende, marktoptimistische Wirtschaftswissenschaft, die bis heute die Ursachen der Finanzmarktkrise nicht begriffen hat, werden hervorgehoben. Garniert wird diese Darstellung mit persönlichen Beispielen leidvoller Einflussnahme etwa durch Wirtschaftsbosse auch per nächtliche Anrufe. Die übergreifende Blockierung durch die als vierte Gewalt charakterisierten Medien führt er auf den „brutalen Verwertungs- und Kommerzialisierungsdruck“ zurück. Dabei geht es weniger um Zensur als um die Zugangssperren, die gegenüber Kritik am profitwirtschaftlich getriebenen Konkurrenzsystem aufgestellt sind. Als Mega-Blockierer macht Trittin die Große Koalition, die GroKo, aus. Dieser Frontalangriff verdeckt jedoch eine Erkenntnis, die auch die GRÜNEN begreifen müssen. Es geht um den Unterschied zwischen Wahlprogrammen und Koalitionsverträgen gegenüber dem sich in der Regierungsarbeit durchsetzenden Alltagsopportunismus. Der GroKo-Vertrag hat mit dem Kapitel „gute Arbeit“ einen historischen Paradigmenwechsel in der Arbeits- und Sozialpolitik vollzogen. Regulierung der Leiharbeit, flächendeckende Mindestlöhne ab 2015, Stärkung der Tarifverträge, aber auch Korrekturen im gesetzlichen Rentensystem sind positive Beispiele. Die SPD hat sich mit den Mindestlöhnen von ihrem damaligen Hartz IV-Diktat, das die Armutslöhne hat ansteigen lassen, regierungspolitisch verabschiedet. Jürgen Trittin versäumt es, die Ursachen der systematischen Verwässerung im Zuge des konkreten Regierungshandelns zu durchleuchten. Offensichtlich toben sich die Wirtschaftsverbände bei der Durchsetzung ihrer Interessen im Zuge der Umsetzung in Gesetze erfolgreich aus.
Trittin präsentiert zur Entwicklung seines Konzepts eines entblockierten, zukunftsfähigen
und nachhaltigen Deutschland drei Einsichten:
(1) Mit vielen Beispielen zum ökologischen
Umbau werden die Sätze eingehämmert: Ökologische Nachhaltigkeit ist im allgemeinen
Interesse der Menschen heute sowie der künftigen Generationen. Sie bildet die Basis
einer zukunftsfähigen Wirtschaft.
(2) Den irrig naiven Wünschen nach einer Wirtschaft ohne Wachstum bzw. mit Null- oder Minuswachstum widerspricht er mit einem eigenen Abschnitt unter dem Titel „Was noch weiter wachsen muss“. Beispielsweise führt die ökologisch gewollte Energiewende zum Schrumpfen bis zum Verschwinden fossiler oder atomarer Energieerzeugung. Dagegen wächst der Einsatz von Stahl, Beton und hochkomplexen Steuerungstechniken für die Windenergieproduktion sowie die Stromverteilungsnetze. Das theoretische Konzept nennt Trittin zu Recht „ökologischer Materialismus“. Trittin ahnt, dass seine Kritiker seinem Konzept eines ökologischen Materialismus „veraltetes Denken und faktisch zerstörerische Kurzsichtigkeit“ vorwerfen. Ökologie ist nicht postmateriell, sondern durchaus materiell auf die „gerechte Verteilung von Luft, Wasser, Gesundheit und Nahrung“ ausgerichtet.
(3) Schließlich führt dieser ökologische Materialismus zu der ausführlich begründeten Poli-tikstrategie „Sozial-ökologische Transformation“. Da nach den Erfahrungen in den letzten Jahren der Begriff „Reform“ nur Angst und Schrecken ausgelöst hat und somit diskreditiert ist, wählt er den sperrigen Begriff Transformation. Es geht nicht vorrangig um bevormundend wirkende Konsumismuskritik, sondern den Umbau der Produktionsstrukturen. Das heißt nie wieder die Forderung nach einem Veggieday, der für einen Tag den öffentlichen Kantinen die Ausgabe vegetarischer Speisen vorschreibt. Der „pietistisch – gouvernantenhafte Ansatz scheitert in einer vom demokratisierten Konsum dominierten Kultur immer wieder ….“ Die neue Alternative heißt, wie der jüngste Parteitag der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verkündet: Umbau der Produktionsweise und -strukturen in der Agrarwirtschaft. Allerdings zeigen sich in diesem wichtigen Teil auch Schwächen. Mit der Darstellung der großen Linien der Transformation bleiben die Instrumente des Umbaus unterbelichtet. Übrigens ist an keiner Stelle des Buchs noch ernsthaft von Ökosteuern die Rede. Warum dieser Rückzug? Bei den am Ende angebotenen Wertungen zu Regierungsvarianten wird die „Gefahr von rechts“ berücksichtigt. Es geht um: „Schwarz-Gelb oder Groko, „Ampel-Gehampel“, „Schwarz-Grün von hinten durch die Brust“ und „Rot-Rot-Grün“ (Grün für Linksabbieger). Eine klare Aussage verdient Erwähnung: Eine Koalition unter Angela Merkel macht für Trittin wegen ihrer hartnäckigen Fixierung auf bestehende Herrschafts- und Ökonomieverhältnisse keinen Sinn. Die Frage zum Umgang mit der Partei DIE LINKE bleibt auffällig offen. Die Ablehnung der Linken wird nahezu ausschließlich mit ihrem naiv-gefährlichen Fundamentalpazifismus begründet. Da die Steuer- Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der LINKE-Partei nicht angesprochen wird, bleibt durchaus eine Tür für eine Regierungsbeteiligung mit den GRÜNEN im Bereich des Möglichen.
Wenn auch gelegentlich der unermüdliche Prediger durchschimmert, die Lektüre dieses gut strukturierten und bestens lesbaren pragmatischen Plädoyers für ein sozial gerechtes und ökologisches Deutschland mit praktizierter Verantwortung für Europa und die Welt lohnt sich. Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sollte dieses Plädoyer, Deutschland besser zu regieren, Pflichtlektüre sein.