Kapitalismus am Ende?
Der Neoliberalismus ist der größte Irrtum in der Geschichte des ökonomischen Denkens. Um die Perversionen des Systems zu beheben, muss der Kapitalismus durch Regulierungen entmachtet und zivilisiert werden.
Gekürzt erschienen in der Sonntagsausgabe „Tagesspiegel“ 23.10.2011
Seit seiner historischen Durchsetzung gilt: Kapitalismus und Krise sind
die zwei Seiten einer Medaille. Der Grund ist einfach. Die Triebkraft
bei der Nutzung der Marktkräfte ist das einzelwirtschaftlich unternehmerische
Ziel, den Gewinn auf das eingesetzte Kapital, die Profitrate,
hochzutreiben. Bei den durch diese Produktionsweise erzeugten Ergebnissen
wird auf gesellschaftlich politische Zielsetzungen keine
Rücksicht genommen. Die profitwirtschaftlich dominierte Unternehmenswirtschaft
versucht, die damit erzeugten sozialen, beschäftigungsbezogenen
und ökologischen Risiken zugunsten einer bornierten,
rein betriebswirtschaftlichen Gewinn- und Verlustrechnung zu externalisieren.
Auf die immer wieder gestellte Frage, ob dieser Kapitalismus
wegen seines Zerstörungspotenzials noch zu retten sei, ist in einem
mühseligen Lernprozess unter mehreren Möglichkeiten eine konsensualisierbare
Antwort gefunden worden. Effizienz und Wohlstand
sind auf der Basis der kapitalistischen Märkte nur zu erzielen, wenn das
ökonomische System unter dem Primat der Politik in eine gesellschaftliche
Ordnung eingebunden wird. Aus der „Anatomie des Marktversagens“
(Francis Bator, 1958) leitet sich die Agenda demokratisch
legitimierter Politik ab.
Dazu gehört die Bereitstellung öffentlicher Güter,
wie es im Bereich
der Bildung schon Adam Smith in seinem Standardwerk von 1776
begründet hat. Die durch die profitwirtschaftliche Produktion
erzeugten sozialen Risiken für die Lohnarbeiter, ihre finanzielle Basis
zu verlieren, verlangen einen handlungsfähigen Sozialstaat. Die
Entdeckung der sozialen Marktwirtschaft in den 1950er Jahren, die
heute nur noch in Sonntagsreden beschworen wird, lässt grüßen. Die
sich im Zusammenspiel der einzelwirtschaftlichen Rationalität oftmals
einstellende gesamtwirtschaftliche Irrationalität verlangt eine
Steuerungspolitik gegen die systemimmanente Erzeugung von Wirtschaftskrisen
und Massenarbeitslosigkeit. Nachdem diese einzelwirtschaftliche
Renditeökonomie durch die Externalisierung ökologischer
Kosten die Umwelt bedrohlich belastet hat, steht heute das Ziel ökologischer
Nachhaltigkeit oben auf der Agenda staatlichen Handelns.
Anatomie des Marktversagens
Man sollte meinen, dieses ordnende Konzept der Rettung des Kapitalismus
durch eine auf die Ursachen der Krisenerzeugung ausgerichteten
Politik sei eine Selbstverständlichkeit. Davon kann (leider) keine Rede
sein. Allein schon wegen der Begrenzung des Dogmas vom machtvollen
„unternehmerischen Investitionsmonopol“ (Erich Preiser) ist dieses
Rettungskonzept immer wieder attackiert, ja zu Fall gebracht worden.
Dabei wird ein grundlegendes Demokratiedefizit deutlich. Die heutige
Marktwirtschaft hat mit der in den Lehrbüchern beschworenen Wettbewerbsidylle,
der sich die Unternehmen unterordnen, schon lange
nichts mehr zu tun. Vielmehr dominiert die monopolistische Konkurrenz.
Unternehmen passen sich auf verachteten Märkten nicht der
freien Preisbildung an. Vielmehr wird nicht nur mit der Markt-Macht
strategisches Verhalten durchgesetzt. Auch auf die Politik wird auf
vielen Ebenen Einfluss genommen. Das Primat der Ökonomie gegenüber
der Politik dominiert. Verstärkt durch einen massiven Lobbyismus
gelingt es den Markt beherrschenden Unternehmen, Einfluss auf die
parlamentarische Gesetzgebung zu nehmen. Die heutigen Rettungsprogramme
für die Banken tragen die Handschrift der Banken-Bosse.
Sicherlich, die Geschichte zum Verhältnis von Ökonomie und Politik ist durch unterschiedliche Epochen gekennzeichnet. Beispielsweise war der Einfluss der Politik auf die Wirtschaft in den 1950er und 1960er Jahren durchaus erkennbar. Das hat sich in der jüngsten Etappe, die politisch Mitte der 1980er Jahre einsetzte, grundlegend verändert. Ökonomisch wird die damals einsetzende Entwicklung in der Theorie mit der Überschrift Neoklassik und politisch mit dem heutigen Kampfbegriff Neoliberalismus umschrieben. Nach dem ökonomischen und politischen Zusammenbruch der zutiefst undemokratischen Staaten des real existierenden Sozialismus ist die machtvoll durch die Wirtschaft vorangetrieben Strategie einer weitgehenden Entfesselung der kapitalistischen Marktkräfte durchgesetzt worden. Dazu gehören in Deutschland die schrittweise Demontage des Sozialstaats durch den Abbau der gesetzlich garantierten Existenzsicherung im Alter, der Umbau des Gesundheitssystems sowie die Öffnung des Niedriglohnsektors im Rahmen der Agenda 2010. Diese Angriffe auf die soziale Säule der Marktwirtschaft sind bekannt. Ein Novum stellt jedoch die umfassende Deregulierung der Finanzmärkte dar. Durchgesetzt wurde ein finanzmarktgetriebener Kapitalismus, der in eine extrem bedrohliche weltweite Systemkrise gemündet ist. Ja, wenn nicht schleunigst eine umfassende Politik der Regulierung der Finanzmärkte durchgesetzt wird, dann ist dieser entfesselte Kapitalismus nicht mehr zu retten. Und das hieße erst einmal, immer schneller wiederkehrende Krisen mit generellen Wohlstandsverlusten und vor allem massive Belastung für die vom Arbeitseinkommen Abhängigen. Am Ende droht auch die demokratische Basis gefährdet zu werden.
Finanzmarktgetriebener Kapitalismus
Den Startschuss für die heute drohende Kernschmelze auf den Finanzmärkten
hat am 20. Oktober 1986 Maggi Thatcher mit dem peinlichen
Imperativ losgelassen: „Lasst uns die Regeln, die den Erfolg bremsen,
wegwerfen.“ Gefolgt ist der „Big Bang“, mit dem eine Aufhebung
wichtiger Regulierungen am Finanzplatz London ausgelöst wurde. Bill
Clinton folgte 1994 mit der Aufhebung der Regulierungen für USA-Banken,
die er im prunkvollen Festsaal des Finanzministeriums in Washington
begründete: „Die neuen Regeln machen uns wirtschaftlich stärker
und effizienter, sie sind gut für die Verbraucher“. Die aus der Erkenntnis
der Fehlentwicklungen in der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er
Jahre mit dem Glass-Steagall-Act 1933 vorgenommene Trennung zwischen
Geschäftsbanken und Investmentbanken ist nachfolgend aufgehoben
worden. Die Folge war eine explosionsartige Ausweitung der
Produktion von fiktivem Geld durch Geld ohne Bezug zur realen Wirtschaft.
Wenn auch zögerlich, 2003 öffnete in Deutschland die sozialgrüne
Koalition die Schleusen durch die Zulassung von völlig unkontrollierten
Kreditverbriefungen (Derivate) sowie von Hedgefonds.
Die Entfesselung der Finanzmärkte im Dienste der Finanzindustrie hat
zu folgenden Fehlentwicklungen geführt:
- Völlig überdimensionierte Finanzmärkte haben sich von der Werte
schöpfenden Wirtschaft entkoppelt. Schnelle erzielbare und hohe Renditen
auf den Finanzmärkten anstatt Ausgaben in die Binnenwirtschaft
haben die relative Entkoppelung verursacht.
- Die hoch spekulativen Geschäfte auf den Finanzmärkten sind explodiert.
Das Volumen der Finanztransaktionen ist in 2010 fünfundsiebzigfach
höher ausgefallen als die Weltproduktion. Das sind vor allem Spekulationsgeschäfte,
die nichts mehr mit der Absicherung von Geschäften
gegen Risiken in der realen Ökonomie zu tun haben.
Bei der kaum noch durchschaubaren Mehrfachverpackung von Krediten
in strukturierte Produkte haben dann noch die Ratingagenturen mit
Bestnoten das Unheil verschärft.
- Zu Spekulationszwecken sind neue Finanzprodukte geschaffen worden.
Die hoch gelobten Finanzinnovationen sollten sich schnell als „toxische
Produkte“ erweisen. All diese Produkte haben nichts mit der realen Wertschöpfung zu
tun. Es ist das aus Geld geschaffene fiktive
Geld durch unverantwortliche Finanzalchemisten.
Schließlich ist der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman-Brother
nur eine Chiffre für den schon 2007 sichtbar gewordenen Absturz
dieser hoch spekulativen Finanzmärkte. Bankenfeiertage, als Vorbote
von Bankenzusammenbrüchen, drohten. Die in Deutschland zumindest
kurzfristig gelungene Rettung vor dem Zusammenbruch der Produktions-
und Bankenwirtschaft zeigt, dass selbst in der Ära der Globalisierung
politisches Gegensteuern erfolgreich sein kann. Noch wenige
Wochen zuvor verpönte Konjunkturprogramme, ein Rettungsprogramm
für die Banken und die Kurzarbeitergeldregeln haben den Absturz vermieden.
Die Lehre ist klar: Es lohnt sich, diese Politik dauerhaft sicherzustellen.
Elend des Neoliberalismus
Spätestens die jüngste Finanzmarktkrise zeigt, dass der Neoliberalismus
gescheitert ist. Robert Shiller von der Yale-Universität stellt treffsicher
fest: „Es handelt sich um den größten Irrtum in der Geschichte
des ökonomischen Denkens.“ Diese Erkenntnis sollte sich die vorherrschende
Beratungsökonomik stellen. Denn auch der „Rat der fünf Weisen“
hat sich noch im November 2008 blamiert. Für das Krisenjahr
2009 mit einem Absturz der Produktion um 5% wurde eine kleine
Wachstumsdelle vorhergesagt. Wenn in den Makromodellen der Finanzsektor
als höchst effizient und stabil erfasst wird, dann muss man sich
über die peinlichen Fehlurteile zur ökonomischen Entwicklung nicht
wundern.
Aus dem durch eine schwere Krise sichtbar gewordenen Zusammenbruch des Dogmas von den segensreichen Wirkungen entfesselter Märkte folgt: Die kapitalistische Marktwirtschaft muss zugunsten des Vorrangs der Politik entmachtet werden. Im Mittelpunkt stehen harte Regulierungen der Finanzmärkte. Die Idee, die dienenden Funktionen der Geschäftsbanken gegenüber dem hoch riskanten Investmentbanking abzuschotten, ist wichtig. Entscheidend ist jedoch, die Kontrolle, die Begrenzung, ja das Verbot der gefährlichsten Spekulationsinstrumente. Es geht darum, den Investmentbankern diese Geschäftsfelder zu entreißen. Dazu gehört die Einschränkung des von Kunden unabhängigen Eigenhandels, den die Banken zur Profiterzielung nutzen. Auch sind ungedeckte Leerverkäufe von Aktien und Anleihen schlichtweg zu verbieten. Schließlich dürfen künftig nur noch die Hälfte der Kredite verpackt werden und für die andere Hälfte ist hartes Eigenkapital bei den Banken zu bilden. Darüber hinaus muss die Abwanderung Investmentfonds und Hedgefonds in „Schattenbanken“ durch Genehmigung und Kontrolle über deren Geschäftspolitik verhindert werden.
Den Kapitalismus zivilisieren
Die Entfaltung der zivilisatorischen
Kräfte der Marktwirtschaft zugunsten
von nachhaltigem Wohlstand und Beschäftigung verhindert, ja zerstört
eine sich selbst überlassene Wirtschaft in der Konkurrenz um
hohe Renditen. Deshalb bedarf es einer starken Ordnungspolitik. Der
Kapitalismus ist nur durch Schrumpfen und Regulierungen zu retten.
Die krisentreibenden Exzesse sind zu verbieten, weil sie die Gesamtwirtschaft
und Gesellschaft belasten. Finanzmärkte sollten auf ihre
dienende Funktion zurückgeschraubt werden. Der ordnende Staat hat
für streng einzuhaltende Spielregeln des Wirtschaftens zu sorgen. Sicherlich
hat die um sich greifende Gier die Fehlentwicklung vorangetrieben.
Sie ist ein zutiefst moralisches Problem. Dazu bedarf es eines
gesellschaftlichen Diskurses über Ethik und Moral. Aktuell ist es wichtig,
der Entfaltung von Gier durch Spielregeln auf den Finanzmärkten
den Boden zu entziehen. Im Kern ist die Kapitalismusrettung durch
Schrumpfen und Regulierungen eine Frage der Macht. Da bisher nicht
viel von den Versprechungen umgesetzt worden ist, werden die Krisen
immer schneller kommen und heftiger ausfallen. Auch deshalb muss
Politik in Deutschland, in der EU und auf der Ebene der G20-Gruppe
die Macht der Banken und Megafonds in die Schranken weisen. Dazu
dient vor allem eine umfassende Demokratisierung Die parlamentarische
Demokratie braucht die Stärkung durch die Demokratisierung
der Wirtschaft. Ein wichtiges Instrument ist der Ausbau der Mitbestimmung.
Nur so lässt sich die über die Interessen der Finanzmärkte gesteuerte
Politik durchbrechen. Demokratie darf vor den Banken nicht
halt machen.
Aufklärung über das Krisenpotenzial eines entfesselten Kapitalismus
samt den belastenden Folgen sowie die Konzepte zu einer sozialen
und ökologisch nachhaltigen Wirtschaft sind dringend erforderlich. Hier
stehen die betriebswirtschaftlichen Studiengänge in der Pflicht. Techniken
ohne sozialen und politischen Sinn und Verstand herrschen vor.
Der organisierte Verzicht auf die Diskussion von Wirtschaftsethik und
Moral bei der Präsentation von Modellen zur Renditeoptimierung ist ein
Skandal, der den Betroffenen sowie die Gesellschaft teuer zu stehen
kommt. Der heutigen Generation der Studierenden in Sachen Techniken
der Renditeoptimierung im Kapitalismus droht die Reduktion auf
den seelenlosen und therapieverdächtigen „homo oeconomicus“. Die
ökonomischen und sozialen Kosten dieser „Verbetriebswirtschaftlichung“
des Denkens und Handelns kommt der Gesellschaft teuer zu
stehen. Erforderlich ist dagegen die Befähigung zur nachhaltigen Innovation
und sozialen Kompetenz. Wo bleibt der Aufstand für diesen Bildungsauftrag
zum Nutzen der Betroffenen und der Gesellschaft?