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Bruttoinlandsprodukt in der Kritik

Feb 26, 2011
Bruttoinlandsprodukt: Suche nach einem nachhaltigen Wohlstandsindikator Definitionen, Kritik, Alternativen

Die Kritik am Bruttoinlandsprodukt (BIP) als ausschließliches Maß für die gesellschaftliche Wohlfahrt hat auch in der Wirtschaftswissenschaft eine lange Tradition. Mit der Ausbreitung der Umweltkatastrophen, die am Ende nach der Logik der marktpreisbewerteten Produktion auch noch den damit gemessen Wohlstand paradoxerweise steigen lassen, erlebt die Kritik in den letzten Jahren eine Renaissance; Neue Akzente werden gesetzt und Forschungsaktivitäten intensiviert. Denn unübersehbar sind die Mängel des heutigen BIP-Indikators. Geradezu unsinnige Aussagen, ja Falschinformationen ergeben sich durch den Vorrang für die preisbewertete Produktion, die über die Märkte abgewickelt wird. Wo gesellschaftlicher, ökologischer Wohlstand geradezu vernichtet wird, da wird ein gesamtwirtschaftlicher Produktionszuwachs gefeiert. Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich auf einen Überblick vor allem zu neuen Forschungsaktivitäten. Auf der Basis einer exakten Definition des Bruttoinlandsprodukts werden Ansätze zu einem neuen Konzept mit dem Ziel, die aktuelle und künftige Nachhaltigkeit zu erfassen, beschreiben. Die Überlegungen werden mit Hinweisen auf das vage Konzept einer Glücksökonomik abgeschlossen. Von dieser wird ein brauchbares Messkonzept des gesellschaftlichen und individuellen Wohlstands erwartet.

Kapitel I: Die vorherrschende Definition des BIP in der Kritik
Das Bruttoinlandsprodukt ist derzeit der wichtigste Indikator für die gesamtwirtschaftliche Produktionsleistung Deutschlands in einem bestimmten Zeitraum. Erfasst wird der Wert der durch Inländer und Ausländer im Inland produzierten Güter und Dienstleistungen. Nicht berücksichtigt werden die Waren, die als Vorleistungen für die Produktion genutzt werden. Beim Bruttoinlandsprodukt handelt es sich also um eine Nettoproduktionsgröße. Erfasst wird die Warenproduktion, die zur Endverwendung zur Verfügung steht. Das sind die privaten und öffentlichen Konsumausgaben sowie die privatwirtschaftlichen öffentlichen Investitionen. Dazu zählen auch die Exporte ins Ausland. Allerdings werden die aus dem Ausland bezogenen Importe als Vorleistungen für die inländische Produktion abgezogen. Berücksichtigt wird also die Höhe des Außenbeitrags (Exporte minus Importe). Erst durch den Abzug der Abschreibungen, die im Prinzip dem Ersatz für die Abnutzung des eingesetzten Kapitalstocks dienen, wird vom Brutto- zum Nettoinlandsprodukt übergegangen. Das Nettoinlandsprodukt umschreibt die Einkommenssumme, die zur Verteilung zur Verfügung steht.

Die Daten zum Bruttoinlandsprodukt werden innerhalb der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) mit komplexen Methoden durch das Statistische Bundesamt ermittelt und offiziell vorgelegt. Die EU verpflichtet zur Einhaltung gemeinsamer Regeln für alle Mitgliedsländer. Dazu dient das „Europäische System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (ESVG)“. Diese Harmonisierung sorgt dafür, dass etwa bei der Berechnung der Einzahlungen in den EU-Haushalt auf der Basis des nationalen Bruttoinlandprodukts sowie bei der Kontrolle der Schuldengrenzen („Maastricht Kriterien“) gleiche Berechnungsgrundlagen genutzt werden.

Das Bruttoinlandsprodukt wird für unterschiedliche Zeiträume ausgewiesen. Während normalerweise Jahreswerte ermittelt werden, nutzen die Konjunkturanalysen auch die sich von Quartal zu Quartal ergebenden Veränderungen der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Nach ersten vorläufigen Hochrechnungen beläuft sich die in 2010 erzeugte gesamtwirtschaftliche Produktion nominal auf 2,498 Billionen €. Weil es schwerfällt, die Dimension zu verstehen, wird die Veränderung der wirtschaftlichen Leistung auf eine Wachstumsrate konzentriert. Gegenüber dem Vorjahr 2009 wird für das letzte Jahr mit einer nominalen Wachstumsrate von 4,2% umgerechnet. Da der Nominalwert des Bruttoinlandsprodukts auch durch die Inflation bestimmt wird, ist es üblich, den Realwert auszuweisen. Nach Abzug der Inflationsrate wird in 2010 mit einer realen Rate des Wirtschaftswachstums um 3,7% gerechnet.

Üblich ist es, die Bewertung der Leistungsfähigkeit auf einen einzigen Prozentsatz zu reduzieren. Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts gilt als makroökonomischer Indikator für die Entwicklung der Beschäftigung, für den Spielraum der Verteilung zwischen Gewinn- und Vermögenseinkommen gegenüber den Arbeitseinkommen sowie den Steuereinnahmen öffentlicher Haushalte. Die Frage stellt sich, ob dieses Merkmal für die gesamtwirtschaftliche Produktion auch mit einem Indikator der Veränderung des Wohlstands gleichgesetzt werden darf.

Die Antwort ergibt sich aus der Beschreibung der in dem Konzept systematisch erfassten Produktion. Im Mittelpunkt stehen die Güter und Dienstleistungen, die für Märkte produziert werden. Das Bruttoinlandsprodukt berücksichtigt im Prinzip nur preisbewertete Waren. Daraus ergeben sich systematische Mängel. Dazu einige Beispiele:

- Die jüngste Verkehrsbelastung durch Schnee und Eis offenbart eine Wohlstandsparadoxie. Unfälle führen durch Neukauf eines Pkw, Reparaturen, medizinische Leistungen, aber auch durch die Dienstleistungen, die die Bestattungsbranche erbringt, zu einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts. Dieser steht im Widerspruch zu den wohlstandsmindernden menschlichen Belastungen.

- Wirtschaftsakteure, die die Umwelt als Gratisproduktivkraft benutzen, reduzieren zwar ihre betriebswirtschaftlichen Kosten. Sie lösen jedoch Umweltschäden und entsprechende soziale Kosten und spätere Regulierungen aus.

- Schließlich erhöhen die Aufwendungen für Umweltreparaturen, die Folge der zuvor erzeugten Belastungen ist, die Produktionsleistung zu Lasten anderer Produktionsbereiche.

- Produktionsarbeit, die nicht am Markt angeboten und für die daher keine Erwerbseinkommen gezahlt werden, lassen sich systematisch mit dem Bruttoinlandsprodukt nicht erfassen. So ist es nur möglich, die Produktion öffentlicher Güter durch den Staat, für die es keine Marktpreise gibt, über das Hilfskonzept der Kostenerfassung zu berücksichtigen.

- Die Produktion wichtiger Dienstleistungen im privaten Haushalt wird mangels Marktpreisen und Erwerbseinkommen nicht erfasst. Von dieser „preisfreien“ Hausarbeit sind insbesondere Frauen betroffen. Auch die Ehrenarbeit und viele andere Formen produktiven Engagements werden nicht berücksichtigt.

- Schattenwirtschaftliche Produktionsaktivitäten, die illegal ausgeübt werden, sind äußerst schwer zu erfassen. Das Statistische Bundesamt versucht jedoch mit Zuschlägen diesen Bereich wenigstens indirekt zu erfassen.

Der gesamtwirtschaftliche Indikator Bruttoinlandsprodukt hat durchaus einen berechtigten Stellenwert in der Praxis wie Theorie. Allerdings müssen die Paradoxien sowie die systematische Unterschätzung durch die Bruttoinlandsrechnung hervorgehoben werden. Angestrebt werden sollte eine Netto-Wohlfahrts-Messung. Dazu gehören Satelliten-Informationssysteme zur Umwelt, der Einkommensvermögensverteilung, Gesundheit und vieles mehr.

Kapitel II: Etappen auf der Suche nach einem nach einem Wohlfahrtsindikator.
Vom Club of Rome 1972 bis zur Gründung einer Enquetekommission der Bundesregierung 2011

Am 17. Januar 2010 hat die durch den Bundestag eingerichtete Enquetekommission mit jeweils siebzehn Parlamentariern und Sachverständigen ihre Arbeit unter dem Titel aufgenommen: „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität und Wege zum nachhaltigen Wirtschaften und gesellschaftlichen Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft“. Diese Arbeitsgruppe kann mit der Unterstützung durch die beiden Räte ökonomischen Sachverstands in Deutschland und Frankreich rechnen. Im Februar 2010 hatten Angela Merkel und Nicolas Sarkozy ihren wirtschaftlichen Sachverständigen den gemeinsamen Auftrag erteilt, ein Konzept eines zukunftsfähigen Wohlfahrtssystems zu entwickeln.  
Die Enquetekommission kann auf eine Fülle von Untersuchungen zu ihrem Thema zurückgreifen. Die Kritik am Bruttoinlandsprodukt (BIP) als ausschließliches Maß für die gesellschaftliche Wohlfahrt hat in der Wirtschaftswissenschaft eine lange Tradition. In den letzten Jahren nehmen auch aus der Politik Beratungsaufträge zur Entwicklung angemessener Messkonzepte zu. Denn unübersehbar sind die Mängel des heutigen BIP-Indikators. Widersprüche, ja Falschinformationen und unsinnige Aussagen sind durch die Bevorzugung der Produktion, für die ein Preis am Markt erzielt wird, nicht abzustreiten. Da werden paradoxerweise Autounfälle, die mit viel menschlichem Elend verbunden sind, als Wohlstandsgewinn verrechnet. Dagegen finden Dienstleistungen ohne Preise – also außerhalb der Märkte - keine Berücksichtigung. Eigenarbeit im privaten Haushalt sowie Ehrenarbeit und Nachbarschaftshilfe werden ignoriert. Die auf die Umwelt abgeladenen ökologischen Kosten der privatwirtschaftlichen Produktion und Konsumtion bleiben systematisch ausgeblendet. Dagegen lassen Aufwendungen zur Reparatur der Umwelt die gesamtwirtschaftliche Produktion wachsen. Aber auch die Frage nach der Verteilung der Einkommen, die mit dem BIP entstehen sowie der Vermögen finden keine Berücksichtigung. Der BIP-Wohlstand konzentriert sich auf die ökonomisch Wohlhabenden, während beispielsweise der Beschäftigte im Niedriglohnsektor hat Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Mit dem Aufstieg des Bruttoinlandsproduktes zum einzigen Wohlfahrtsmaß ist das Interesse an den realen Lebensbedingungen verloren gegangen. Dagegen richten sich viele Ansätze bei der Suche nach einem Indikatorensystem, das zwei Zielen dient: Zum einen geht es um die Einrichtung ein anzustrebendes Normensystem gesellschaftlicher und individueller Wohlfahrt nach ökonomischen, sozialen und ökologischen Kriterien. Zum anderen wird bei der heutigen Unterschreitung der Normen der politische Handlungsbedarf offengelegt.

1972: „Club of Rome“ und „Eppler/Brenner-Konferenz in Oberhausen
Die erste wichtige Etappe der Kritik des BIP und der Suche nach ergänzenden Indikatoren setzt Ende der 1960er Jahre ein. Wie ein Paukenschlag wirkte die 1972 vom Club of Rome vorgelegte und von Dennis Meadows verantwortete Studie „Grenzen des Wachstums“. Die Wachstumsbegrenzung durch wachsende ökologische Belastungen, insbesondere die drohende Gefahr knapp werdender natürlicher Ressourcen, damals vor allem durch den Rohstoff Öl, stand im Mittelpunkt dieser weltweiten BIP-Kritik. Im selben Jahr fand eine mutige und stark nachwirkende Konferenz der SPD und IGM unter der Leitung von Erhard Eppler und Otto Brenner in Oberhausen statt. Erstmals wurde in den fünf Bänden der allerdings bis heute vage Leitbegriff „qualitatives Wachstum“ beschrieben und auf die ökologische Besteuerung bestanden.

1990/2010: UNO-Index der humanen Entwicklung (HDI)
In einer späteren Etappe stehen die Arbeiten der UNO unter dem Ziel eine menschenwürdige Entwicklung identifizieren zu können, Vordergrund. 1900 wurde der in der heutigen Debatte viel zu wenig berücksichtigte, über das BIP hinausgehende Index der humanen Entwicklung ge-schaffen. Dadurch sollte der „Mensch als Maßstab“ der Entwicklung erfasst werden. Unter dem wissenschaftlichen Einfluss des Nobelpreisträgers Amartya Sen wurde der „Human Development Index“ (HDI) zur offiziellen Meßgröße. Neben dem Teilindex zum materiellen Wohlstand (BIP pro Kopf) berücksichtigt dieser Indikator den Zugang zu Wissen (Alphabetisierung, Einschulungs-quote) sowie die Chancen für ein langes und gesundes Leben. Anlässlich des zwanzigsten Jubiläums ist 2010 auf der Basis von methodischen Verbesserungen dieser Index um ein Maß zu den ungleichen Chancen auf Einkommen, Bildung und Gesundheit integriert worden. Übrigens ist durch diese um die Ungleichheit erweiterte „Human Development Index“ die USA unter 169 Ländern gegenüber dem alten Index von Rang vier auf Rang dreizehn abgerutscht. Dabei gilt es hervorzuheben, dass drei Komponenten zur Bewertung der menschlichen Entwicklung zu einem einzigen Index zusammengefasst werden.

2010: Neue Denkanstöße durch die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission
Die jüngste Etappe und zugleich bedeutsamste Studie zu einem umfassenden Meßsystem der der ökonomischen Leistung, des sozialen Fortschritts sowie der ökologischen Nachhaltigkeit hat nach eineinhalbjähriger Arbeit eine nach den Wissenschaftlern Joseph Stiglitz (USA), Amartya Sen (Indien) und Jean-Paul Fitoussi (Frankreich) benannte Kommission im September in der Uni-versität Sorbonne in Paris vorgelegt. Auftraggeber war der französische Präsident. Die auf dreihundert Seiten zusammengefassten Denkanstöße sind:

- Anstatt des BIP wird das Nettoinlandsprodukt in den Mittelpunkt gerückt. Vom BIP werden die sozialen, menschlichen und ökologische Verluste aus der privatwirtschaftlichen Produktion herausgerechnet und die kostenlos angebotenen öffentlichen Dienstleistungen im Bereich der Bildung und der Gesundheitsleistungen hinzugezählt.
- Die Verteilung von Vermögen und Einkommen und damit die unterschiedlichen Chancenverteilung zwischen den sozial-ökonomischen Gruppen werden berücksichtigt. 
- Unentgeltliche, nicht über Märkte angebotene Tätigkeiten wie Hausarbeit, Kindererziehung Pflege, Nachbarschaftshilfe und Ehrenarbeit werden geldbewertet erfasst.
- Beim Indikator Lebensqualität werden die Gesundheit, die Lebenserwartung, die Bildung, die persönliche Verfügbarkeit und Nutzung von Zeit (Zeitbudgetierung) sowie die Umweltbedingungen und existenzielle Unsicherheiten berücksichtigt.
- Unter dem Stichworte „Nachhaltigkeit und Umwelt“ wird vor allem das Wohlfahrtsniveau heute und der der künftigen Generationen berücksichtigt.

Auf eine Zusammenfassung der einzelnen quantitativen und qualitativen Komponenten zu eine eindimensionalen Gesamtindex zur Messung der Abweichungen von dem Wohlfahrtsziel wird verzichtet. Vor allem droht die Gefahr, dass bei der Gewichtung der einzelnen Komponenten politisch-ideologische Erwartungen eine Rolle spielen. Hierzu macht die Kommission einen unkonventionellen Vorschlag. Über die Homepage der statistischen Ämter wird die Möglichkeit eingerichtet, eine individuelle Wertung nach dem Motto mehr BIP oder mehr Umwelt abgeben können. Gegenüber einem Generalindikator bevorzugt die Kommission die Idee eines Armaturenbretts mit vielen Anzeigern. Im Mittelpunkt steht der Tachometer für die wirtschaftliche Entwicklung zusammen mit dem Tankanzeiger für den Verbrauch von Rohstoffen sowie eine Temperaturwarnung für die Klimaentwicklung.

Die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission hat viele Initiativen zur Arbeit an einem „Glücksindikator“ ausgelöst. Die EU verpflichtet sich zur Schaffung eines Messkonzepts unter dem Titel „BIP und mehr“. Wie bereits erwähnt, die Bundeskanzlerin und der französische Staatspräsident haben ihre jeweiligen Räte für ökonomischen Sachverstand aufgefordert, gemeinsam ein handhabbares Wohlstandskonzept zu entwickeln. Der britische Premierminister David Cameron fordert explizit die Entwicklung eines „Glückindikators“. In Deutschland wird intensiv an der Umsetzung des Leitgedankens „Der Mensch lebt nicht vom BIP allein“ (so der Titel einer Studie von Ulrich von Suntum) gearbeitet. Auch in den statistischen Ämtern in den Ländern sowie bei der EU wird intensiv an Konzepten zum Glücksbarometer gearbeitet.

Kapitel III: Glücksökonomie – Eine vage Idee 
Die traditionelle, heute weit verbreitete Wirtschaftswissenschaft lehrt den Grundsatz: Mit steigendem Einkommen und Vermögen wächst auch der Nutzen einer Gesellschaft. Dahinter steht der nur auf die ökonomische Nutzenmaximierung ausgerichtete Mensch, der „homo oeconomicus“. Er definiert sein ökonomisches Glück ohne Blick auf die Mitmenschen und die Gesellschaft. Auf dieser einzelwirtschaftlichen Basis gilt für die Gesamtwirtschaft das Ziel, das Bruttoinlandsprodukt zu steigern. Ohne Rücksicht auf die Frage nach den negativen Folgen wird diese gesamtwirtschaftliche Produktion zum einzigen Wohlstandsindikator.

Gegen diese festgefügten Glaubenssätze wendet sich die seit Jahren boomende Glücksökonomie mit bahnbrechenden Erkenntnissen. Der Pionier dieser Glücksökonomie Richard Easterlin von der University of Southern California untersuchte 30 Umfragen aus 19 Ländern aus dem Zeitraum 1946 bis 1970. Beim Vergleich der Umfragen zur Lebenszufriedenheit und zur Einkommensentwicklung entdeckte er einen scheinbaren Widerspruch. Dieses Easterlin-Paradox wurde durch eine Anschlussuntersuchung zu den USA bestätigt: Zwischen 1975 und 1995 ist das Bruttoinlandsprodukt real um 40 Prozent gestiegen. Trotz Plasmafernseher, Playstations und vielen andere Produktinnovationen fühlen sich die Befragten im Vergleich zu ihren Eltern und Großeltern keineswegs glücklicher. Diese Ergebnisse werden durch Untersuchungen in anderen hochindustrialisierten Ländern bestätigt. Das Glück, das mit dem Indikator Lebenszufriedenheit gemessen wird, hängt offensichtlich auch noch von anderen Faktoren ab. Eine erste Erklärung, die Justin Wolfers und Betsy Stevenson nachgeliefert hatten, lautet: Nur in armen Ländern steigt mit wachsendem Einkommen die allgemeine Lebenszufriedenheit. Jedoch löst sich ab einem gesicherten elementaren Existenzminimum dieser Zusammenhang auf. Über die Grundbedürfnisse hinaus stiftet zusätzliches Einkommen nur noch dann Nutzen, wenn die Nutznießer im Vergleich zu anderen besser dastehen. Steigt jedoch das Einkommen aller, dann macht dies nicht mehr, ja so gar weniger zufrieden. Es geht um die relative soziale Position gegenüber den Mitmenschen. Werden die Einkommenszuwächse jedoch stark ungleich verteilt, dann gibt es Gewinner und Verlierer beim sozialen Status. Nach diesem Kriterium kann sogar im Durchschnitt die gesamtgesellschaftliche Lebensqualität sinken. Belegt wird dieses Muster durch das berühmt gewordene Experiment mit Studierenden der Harvard-Universität. Sie sollten auf die Frage nach der Welt, in der sie lieber lebten, antworten: In der Welt, in der sie selbst 50 000 $ und andere nur halb so viel verdienen oder in einer Welt bei der sie das Zweifache, also 100 000 $ verdienen, jedoch die anderen doppelt so viel? Die meisten Befragten entschieden sich, obwohl sie individuell besser dastehen würden, nicht für die zweite, sondern die erste Variante. Entscheidend ist also die relative Statusposition im Vergleich zu den anderen. Der Glücksökonom Bruno S. Frey aus Zürich fügt eine weitere Erkenntnis hinzu: Mit wachsenden Einkommen steigen die Ansprüche und damit die Sucht nach steigender Kaufkraft. Einerseits sinkt der Gewinn an Lebenszufriedenheit nach wenigen Jahren um die Hälfte. Andererseits geht durch das Verhalten vergleichbar dem Hamsterrad Lebensqualität verloren. Denn soziale Beziehungen werden massiv eingeschränkt, Ehen scheitern und psychische Krankheiten nehmen zu. Dieses Elend der eindimensionalen Leistungsgesellschaft wird am Ende zur Wachstumsbremse. Der britische Ökonom Andrew Oswald hat hinzugefügt: Obwohl in Regionen mit niedriger Arbeitslosigkeit die Chance, einen neuen Job zu finden, höher sind, kommt der Arbeitslose in einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit besser klar. Entscheidend ist, dass hier das Ausmaß der Ausgrenzung und damit die mangelnde Selbstachtung durch die vielen Leidensgenossen beschränkt sind.

Interessant sind schließlich die Ergebnisse zur Glücksforschung zwischen entwicklungsschwachen und hochentwickelten Ländern. Angus Deaton hat auf der Basis von Zufriedenheitsbefragungen in 132 Ländern beispielsweise festgestellt: Die AIDS-Epidemien haben kaum einen negativen Einfluss auf die Zufriedenheit der Afrikaner mit ihrem Gesundheitssystem. In Kenia lässt sich trotz der vielen HIV-Infizierten eine höhere Zufriedenheit mit ihrem Gesundheitssystem im Vergleich zur Akzeptanz der US-Bürger dem ihrigen feststellen. Der Nobelpreisträger Armartya Sen, bekannt für seine Armutsstudien in der dritten Welt, führt dieses Ergebnis darauf zurück, dass maßgeblich die Lebensumstände verglichen mit den Möglichkeiten, die dem einzelnen für ein langes und erfülltes Leben zur Verfügung stehen, entscheidend sind. Wegen der individuell eingeschränkten Möglichkeiten ist es umso wichtiger, die AIDS-Bekämpfung international zu unterstützen.

Die Annahmen und Ergebnisse der Glückökonomie sind nicht unumstritten. Die Glücksforschung gibt jedoch viele Impulse zur Überwindung des Bruttoinlandsprodukts als Wohlstandsmaß. Die Erforschung der Lebenszufriedenheit zeigt, dass diese auch vom sozialen Zusammenhalt sowie der ökologischen Nachhaltigkeit abhängt. Für die Politik im Dienst der Glücksökonomie gilt die Aussage von Aristoteles: Das „Zielgut der Staatskunst“ und „das höchste Gut im Gebiet des Handelns“, die Eudämonie genannt, ist die „Glückseligkeit“, die aber nur erreicht werden kann, wenn die Menschen an ihr teilhaben. 

Last modified: Dec 16, 2018