Nochmals zur Schuldenbremse vor der Bundestagswahl
Mit der Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz ist 2011 eine epochale Beschränkung der Finanzierung öffentlicher Haushalte durch den Bund, die Länder und indirekt auch bei den Kommunen durchgesetzt worden. Den Ländern wurde ab 2020 abgesehen von der konjunkturbedingten Kreditaufnahme die Neuverschuldung verboten. Beim Bund sind über die Konjunkturkomponente hinaus strukturelle Neuschulden auf maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (pro Jahr ca. 12 Mrd. €uro) beschränkt worden. Dabei hat der übereifrige Bund in den Jahren von 2014 bis 2019 auch noch auf seinen Spielraum zugunsten der „schwarze Null“ verzichtet. Angetrieben durch die damals bedrohlich wirkende Expansion der Staatsverschuldung war die Sorge vor der dadurch ausgelösten Inflation, einem investitionsschädlichen und die öffentlichen Haushalte belastenden Zinsanstieg, aber auch vor dem Boykott Deutschlands durch das internationale Finanzkapital groß. Vor allem aber zählte das Mantra von den heutigen Krediten, die zur Erblast künftiger Generationen führen sollen. Die „schwäbische Hausfrau“, die tugendhaft in ihrem überschaubaren Haushalt spart, also weniger ausgibt als sie einnimmt, wurde zur Leitfigur des Staates mit seinen nicht vergleichbaren gesamtwirtschaftlichen Aufgaben. Mit dieser Verwechselung von öffentlichen mit privaten Haushalten wurde die zuvor im Grundgesetz fixierte „goldene Regel“ abgeschafft: Auch gesamtwirtschaftlich produktive Investitionen durften nicht mit Krediten finanziert werden.
Heute lässt sich Bilanz ziehen. Die Schuldenbremse hat bei einer kaum veränderten Steuerpolitik zu massiven Einsparungen im Bereich der Infrastrukturinvestitionen geführt. Eine alarmierende Studie vom industrienahen „Institut der deutschen Wirtschaft“ zusammen mit dem gewerkschaftsnahen „Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung“ belegt: Über die Jahre hinweg hat sich ein öffentlicher Investitionsbedarf für die Reparatur, die Modernisierung und Erweiterung auf über 450 Mrd. Euro aufgestaut. Über Einsparpolitik der Länder ist auch der Spielraum bei den Kommunen für Infrastrukturinvestitionen zurückgegangen. Eine Studie der „Kreditanstalt für Wiederaufbau“ beziffert den kommunalen Investitionsrückstand auf knapp 150 Mrd. €. Also, die Schuldenbremse entpuppt sich als Zukunftsbremse. Sie muss in diesem Bundestagswahlkampf auf den Prüfstand.
Beim Vergleich der vorliegenden Wahlprogramme zeigt sich ein ärgerlicher Widerspruch. Parteien wie die CDU, die GRÜNEN und die SPD fordern zu Recht massive Investitionsprogramme nicht nur gegen die Klimakrise. Ob dazu die Schuldenbremse zur Finanzierung öffentlicher Investitionen geöffnet werden soll, bleibt im Dunkel.
In dieser Bundestagswahl muss die Frage nach der Zukunft dieser Entwicklungs-bremse per Verschuldungsverbot auf die Tagesordnung. Denn die aufgestauten öffentlichen Investitionsdefizite sowie die Zukunftsinvestitionen verlangen nach einem Finanzierungskonzept. Zumindest sollte die Schuldenbremse an der „goldenen Regel“ orientiert reformiert werden: Der Staat beansprucht die weltweiten Finanzmärkte zur Finanzierung seiner Zukunftsinvestitionen. Die dazu wichtigste Reformmaßnahme lautet: Genutzt werden sollten für gebündelte Infrastrukturprogramme „öffentliche Investitionsgesellschaften“ bzw. „Sondervermögen“ mit dem Zugang zu den Finanzmärkten. In einigen Ländern, wie Hamburg, lässt die Verfassung dies zu. Auch der Bund arbeitet bereits jenseits der Regelungen für den Normalhaushalt mit solchen Sonderfonds. Übrigens sind diese, oftmals als Schattenhaushalte gescholten, gegenüber der Abwicklung von Investitionen im öffentlichen Normalhaushalt für die parlamentarische Haushaltspolitik im Gesamtablauf transparenter.
Im Bundestagswahlkampf wird auch über die finanziellen Folgen der Corona-Krise zu reden sein. Immerhin ist 2011 im Grundgesetz festgelegt worden, die Schuldenbremse im Falle von „Naturkatastrophen“ (damals mit dem Blick auf die große Flutkatastrophe) und „außergewöhnlichen Notsituationen“ auszusetzen. Die massiven Steuerausfälle und die Rettungsprogramme für die durch die Lockdowns abgestürzte Wirtschaft zusammen mit den Ausgaben für das Gesundheitssystem mit öffentlichen Krediten zu finanzieren, war alternativlos. Bis in das Jahr 2022 hinein wird allein beim Bund die Neuverschuldung auf 470 Mrd. Euro angestiegen sein. Allerdings schlägt bei der Frage, wie mit dieser Neuverschuldung aus der Corona-Not umzugehen ist, die Regelung der Schuldenbremse wieder zu. Das Grundgesetz schreibt die Rückzahlung der Corona-Schulden „in einem angemessenen Zeitraum“ vor. Deshalb plant die noch amtierende Bundesregierung, spätestens ab 2026 bis 2046 pro Jahr über 20 Mrd. € zu tilgen. Bei einer zügigen Rückzahlung der Kredite drohen vor allem massive Ausgabenkürzungen. Deshalb werden unterhalb der Forderung nach einer ein-maligen Vermögensabgabe Möglichkeiten diskutiert, die Staatsschulden zeitlich zu strecken. Soweit sich die wirtschaftliche Entwicklung wieder stabilisiert und der Schuldendienst bedient werden kann, ist diese öffentliche Kreditpolitik tragfähig.
Die Lehre aus den durch die Schuldenbremse bedrohlich gebremsten öffentlichen Investitionen aber auch aus der Corona-Krise lautet: Öffentliche Kredite sind dann vernünftig, wenn diese antizyklisch und mittelfristig nach der „goldenen Regel“ für staatliche Investitionsprojekte eingesetzt werden. Deshalb ist in diesem Wahlkampf auch Aufklärungsarbeit gegenüber den ideologischen Beschwörungen von den schädlichen Wirkungen der Staatsverschuldung wichtig: Die staatlich finanzierte Investitionspolitik treibt nicht die Inflation an und führt nicht wegen des Anlage suchenden Geldvermögens zum Zinsanstieg. Schließlich finden die Staatstitel trotz Minusrenditen reißenden Absatz auf den Finanzmärkten. Künftige Generationen werden für die heute veranlassten Infrastrukturinvestitionen für bessere Lebens- und Produktionsbedingungen danken. Die gesamtwirtschaftlich blinde, kameralistische „schwarze Null“ sollte durch die „grüne Null“ als Symbol für eine klimaneutrale Zukunft abgelöst werden. Aktuell heißt das, die Schuldenbremse zumindest investitionsförderlich zu reformieren.