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Kurzkommentar: Corona-Krise zwingt zum neuen ökonomischen Denken

Nov 23, 2020
Gastkommentar im KURIER AM SONNTAG (Weser-Kurier) vom 22.11.2020
Die jüngsten Nachrichten über die gesamtwirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pan­demie klingen optimistisch. So wird durch den „Sachverständigenrat zur Be­gutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ prognostiziert: In diesem Jahr schrumpft die Ge­samtwirtschaft weniger als erwartet, allerdings immer noch um 5,1 Prozent. Diesem Abschwung soll jedoch bereits im kommenden Jahr ein Aufschwung mit knapp 4 Prozent folgen. So viel Optimismus steht im Widerspruch zu den ohne eigenes Verschulden in Existenznot getriebenen Un­ternehmen. Beim ersten Lockdown gerieten vor allem die Exportwirtschaft durch die Störung internationaler Lieferketten, der Tourismus- und die Veranstaltungsbranche in Not. Das November-Paket hat das Gastgewerbe, die Kultur- und Sporteinrichtungen voll getroffen. Wie lässt sich der Widerspruch zwischen dem gesamtwirtschaftlich-konjunkturellen „Licht am Ende des Tunnels“ (Olaf Scholz) und den vielen Unternehmen, die ohne staatliche Hilfen abgestürzt wären, auflösen? Die ökonomische Krise ist auch eine Krise der beratenden Wirtschaftswissenschaft. Zwar verdienen die hoch-komplexen Prognosemodelle große Anerkennung, aber bleiben auf die Vor-Corona-Ökonomie ausgerichtet. Die beratende Wirtschaftswissenschaft berücksichtigt die durch den Kampf gegen die Pandemie veränderte Wirtschaftsstruktur, aber auch neue Verhaltensweisen viel zu wenig. Zurückgegriffen wird auf das die Lehrbücher prägende Vor-Corona-Wissen. Ein Beispiel ist der untaugliche Rückgriff auf das Modell des konjunkturellen Auf und Ab, also das V-Muster. Während bei einem konjunkturellen Abschwung mangels Nachfrage die Auslastung der Produktionskapazitäten zurückgeht, diese jedoch im Prinzip bestehen bleiben, werden durch die Folgen der Covid-19- Pandemie Unter-nehmen in den Abbau ihrer Produktionskapazitäten, ja in die Insolvenz getrieben. Für den nachfolgenden Aufschwung steht ihr Angebot nicht mehr zur Verfügung. Auch verändert die Corona-Krise vor allem das Konsumverhalten. Triebkraft ist die Angst vor der Infektion. So erklärt sich, dass derzeit der Einzelhandel zwar geöffnet ist, jedoch die Kundschaft großteils ausbleibt. Positiv wirkt die durch den Kampf gegen die Pandemie erzwungene Ent-schleunigung durch ökologisch-nachhaltige Verhaltensänderungen etwa im Bereich des Massentourismus und den Mega-Veranstaltungsorgien.

Schließlich musste im Gegensatz zu den marktdominanten Ökonomiemodellen der Vor-Corona-Zeit der ordnende Staat wiederbelebt werden. Ohne die staat­lichen Programme zur Überbrückung unverschuldet in Not geratener Unternehmen hätte der „Rat der fünf Weisen“ eine anhaltend tiefe Krisenentwicklung prognostiziert. Insgesamt erzwingt dieser Kampf gegen die Pandemie eine auch das Wirtschaftssystem wichtige ethische Wiederbesinnung. Die Basis für Staat und Gesellschaft ist die Verantwortung der Menschen für eine soziale und ökologische Zukunft im Klima eines solidarischen Individualismus nach dem Motto: Was den anderen schützt, nützt auch mir.

Last modified: Nov 23, 2020