Mehrwertsteuerparadoxon im 130 Mrd. €-Konjunkturprogramm
Das Konjunkturpaket mit 130 Mrd. € richtet sich mit vielen Maßnahmen auf den Neustart der Wirtschaft nach dem Absturz durch die Corona-Pandemie und den folgenden Lockdown. Maßnahmen für Unternehmen, Familien, die Innovation, Kommunen, die Umwelt, Bildung, Wissenschaft und Kunst werden mit dem Ziel der gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung im Konjunkturpaket gebündelt. Oftmals handelt es sich um Projekte, die auch ohne Corona-Krise auf der Tagesordnung standen. Viele Maßnahmen weisen in die richtige Richtung. Teilweise ist jedoch der Einsatz vom Volumen her zu gering, zu kurzfristig und zu wenig transformativ. Statt eines „Wums“ für die Wirtschaft (Olaf Scholz) ist eher mit einem holprigen Weg zu rechnen. Ob das alles reicht, entscheidet am Ende die Entwicklung der Corona-Pandemie. Sollte es auf dem Weg zur Normalisierung einen Rückschlag geben, dann wird dieses Konjunkturprogramm mit der Erwartung einer Normalisierung nicht ausreichen.
An dieser Stelle werden am Beispiel der Mehrwertsteuersatzsenkung auf Widersprüche und Fehlwirkungen eingegangen.
Zweifel am „Herzstück“ (Markus Söder) des Programms: Die Mehrwertsteuersatzsenkung
20 Mrd. € konzentrieren sich auf die Stärkung des privaten Konsums. Dazu werden bei der Mehrwertsteuer vom Juli bis zum September dieses Jahres der Normalsatz von 19 % auf 16 % und der ermäßigte Steuersatz von 7 % auf 5 % gesenkt.
1. Wenn die Senkung dieser Sätze durch den entsprechenden Rückgang der effektiven Preise an die Konsumenten weitergegeben wird, dann wirkt dies sozial gerecht. Die unteren Einkommensbezieher profitieren mehr, denn sie geben vergleichsweise mehr für den Konsum (hohe Konsumquote) aus als die Einkommensstarken. Die grundlegend regressive Verteilungswirkung der Mehrwertsteuer, die durch den ermäßigten Steuersatz abgeschwächt wird, kommt bei Satzsenkungen den Einkommensbeziehern mit hoher Konsumquote zugute.
2. Die Bundesregierung unterstellt die positive Wirkung auf die Konjunktur: Unternehmen, die die Mehrwertsteuer, die der Konsument bezahlt, als Inkassoinstanz an den Staat weiterleiten, geben den sinkenden Preisaufschlag an die privaten Haushalte zurück. Dann sollen sinkende Preise zu einer Ausweitung der konsumtiven Nachfrage führen und somit die Erwartung, die Konjunktur zu stärken, erfüllen.
3. Diese Weitergabe durch die Unternehmen über Preissenkungen an die Konsumenten ist äußerst ungewiss. Daher überraschen die unüberhörbaren Appelle der Bundeskanzlerin und des Bundesfinanzministers an die Unternehmen nicht. Letztlich liegt die Entscheidung zum Ausmaß der Überwälzung auf den Endpreis bei den Anbietern. Ein Beispiel: Bei einem unveränderten Einkaufswert (einschließlich Mehrwertsteuer) von 300 € profitieren die Kunden durch die komplette Weitergabe des Normalsteuersatzes von 19 % auf 16 % an den Kunden mit 6, 51 € und beim Kauf von Waren zum ermäßigten Steuersatz von 7 % auf 5 % mit 5,34 €. Ob es allerdings zur Eins zu eins- Überwälzung kommt, ist zweifelhaft, vor allem nicht kontrollierbar. Die Hoffnung auf den Druck durch einen funktionierenden Wettbewerb wird durch die intensive Marktkonzentration enttäuscht.
4. Es gibt historische Erfahrungen („Mövenpick-Bonus) und empirische Untersuchungen, die vor allem bei reduzierten Mehrwertsteuersätzen belegen, dass die Erwartung einer kompletten Überwälzung durch sinkende Preise von vielen Unternehmen nicht erfüllt wird. Eine empirische Studie für Europa zeigt, dass nur ungefähr 15 % der Mehrwertsteuerreduktion durch niedrige Preise bei den Konsumenten angekommen ist. Im gegenteiligen Fall einer Anhebung des Mehrwertsteuersatzes wurde allerdings der Preisanstieg auf breiter Front zu Lasten der Konsumenten durchgesetzt. *) Der Titel dieser Studie greift die Antwort auf die Frage, wer zahlt am Ende die Steuer, unter dem Stichwort asymmetrische Inzidenz auf: „What goes up may not come down“! So könnte die Abfolge der im Konjunkturprogramm für ein halbes Jahr festgeschriebenen Maßnahme dazu führen: Ab Juli dieses Jahres werden die Preise gegenüber den Steuersatzsenkungen nur zum geringfügigen Teil reduziert. Allerdings wird nach der Rückkehr zu den bisherigen Sätzen zu Beginn des neuen Jahres versucht werden, zusätzliche Preisaufschläge durchzusetzen.
In dem Ausmaß, in dem diese befristete Mehrsteuersenkung durch das Konjunkturprogramm nicht voll zur Preissenkung durchgereicht wird, profitiert nicht der Konsument, sondern das Unternehmen durch die Verbesserung der Ertragslage.
5. In der Debatte wird auch betont, diese Stärkung der Unternehmen durch die Nichtweitergabe der gesenkten Sätze würde auch der Konjunktur nutzen. Übrigens ist der reduzierte Satz für Speisen in der Gastronomie bewusst als Stützungsprogramm eingesetzt worden. Also handelt es sich um eine Maßnahme zur direkten Förderung der Unternehmen.
6. Diese direkte Stärkung der Wirtschaft über den Vorteil niedriger Mehrwertsteuersätze führt jedoch zu einem Mitnahmeeffekt. Dieser steht im Widerspruch zur Erwartung, durch Preissenkungen die konsumtive Nachfrage zu erhöhen. Wer diese direkte Art der Ertragsverbesserung will, der kann nicht gleichzeitig auf die konsumtive Mehrnachfrage durch Preissenkung setzen. Beides ist nicht zu haben. Es handelt sich um eine Art Mehrwertsteuerparadoxon nach dem Motto weniger ist am Ende mehr, aber für wen?
7. Vorzieheffekte beim Konsum und Kalkulationsprobleme besonders bei Schwellenpreisen, lassen eher ein Strohfeuer erwarten. Rechenbeispiel zu einem Schwellenpreis: Preis heute 99 € (bei 19 % Satz, Steuer 15,80 €) gesenkt auf 97,50 € (bei 16 %, Steuer 13,44 €). Der Preisvorteil ist 3,26 €. Durch die Vorzieheffekte droht vor allem bei dauerhaften Konsumgütern zum Beginn des neuen Jahres ein Nachfrageloch.
8. Auch lässt sich eine Konsumrückhaltung etwa durch Einkommensverluste bei der Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit sowie steigende Armut nicht durch sinkende Konsumpreise überwinden. Vielmehr müssen die verfügbaren Einkommen erhöht werden.
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*) Studie vom November 2018 zeigt, dass Mehrwertsteuersenkungen in Europa nur mit ungefähr 15 % an die Verbraucher weitergegeben wurden. Ein weiteres interessantes Ergebnis: Preissenkungen bei reduzierten Steuersätzen fallen deutlich geringer als Preiserhöhungen nach erhöhten Steuersätzen aus. Die Rede ist von der „asymmetrischen Inzidenz“. Youssef Benzarti u.a.: What goes up may not come down: Asymmetric Incidence of Value-Added Taxes; in: NBER – Working Paper Series, November 2018