Beschlüsse des Rats der Europäischen Zentralbank am 12.09.2019
Zum 1. November 2019 wird Mario Draghi an der Spitze der EZB durch Christine Lagarde abgelöst. Den auch mit viel Populismus und Polemik herbeigeredeten Ausstieg aus der expansiven Zinspolitik mit Minimal-, Null- und Minuszinsen wird es auch mit Lagarde nicht geben. Dies hat die künftige Präsidentin bei der Anhörung vor dem Wirtschaftsausschuss des Europaparlaments am 04.09.2019 plausibel begründet.
Mario Draghi jedenfalls lieferte mit der Mehrheit des EZB-Rats auf der Sitzung am 12.09.2019 den Beweis: Der bisherige Kurs wird im Kern zementiert. Im Zentrum steht die angestrebte Zielinflationsrate „unter nahe 2 Prozent“. Sie liegt aktuell ziemlich unbeweglich immer noch deutlich mit knapp 1 Prozent im Durchschnitt der Euroländer darunter. Diese viel zu niedrige Inflationsrate gilt als gesamtwirtschaftliches Signal für schwaches Wirtschaftswachstum und zu geringe unternehmerische und öffentliche Investitionen. Durch diese fortgesetzte Geldpolitik mit Minus- und Nullzinsen wird eine Ausweitung der Vergabe von (billigen) Krediten durch die Banken erwartet. Die EZB hat also den im Vorfeld zu beobachtenden Attacken und der Polemik aufrecht widerstanden. Da war vom „Ruin der Finanzmärkte“ (Chef der Deutschen Bank) und von der „Enteignung der Sparer“ die Rede.
1. Einordnung der wichtigsten Beschlüsse
1. Der
Leitzins für Hauptrefinanzierungsgeschäfte, zu dem sich Banken Liquidität
durch Pensionsgeschäfte besorgen, bleibt bei null Prozent.
2. Der Zinssatz für Spitzenrefinanzierungsfazilität liegt unverändert bei 0,25%
Prozent.
3. Das Programm zum Ankauf von Staats- und Unternehmensanleihen (Asset Purchase
Programme – APP) wird nach dem Stopp im Dezember 2018 ab dem 1. November wieder mit
einem monatlichen Volumen von netto 20 Mrd. € aufgenommen.
4. Auch werden den Banken mit zwar veränderten Modalitäten vierteljährlich gezielt
längerfristige Refinanzierungsgeschäfte (GLRG III) für die Vergabe günstiger Kredite
angeboten.
5. Der Zinssatz, den Banken für Einlagen bei der EZB zahlen müssen, wird von
0.4 auf 0,5 Prozent angehoben. Allerdings hat die EZB die Kritik vor allem durch die
Sparkassen und Volksbanken angenommen und einen Staffelzins eingeführt. Künftig wird
es ein zweistufiges System geben. Anknüpfungspunkt ist die obligatorische Mindestreserve,
die nicht dem Strafzins unterliegt. Basis ist das für jedes einzelne Institut ermittelte
Reservesoll (etwa Einlagen bei der Bank), das seit Anfang 2012 mit einem Prozent belegt
wird. Künftig wird das Sechsfache der obligatorischen Mindestreserve
einer Bank von den Strafzinsen ausgenommen. Also bleibt ein Teil der Überschussliquidität
verschont. Nur die darüber liegenden Einlagen werden künftig mit dem auf 0,5 Prozent
erhöhten Strafzins belastet. Erste Schätzungen zur Entlastungswirkung für Banken zeigen,
obwohl der Strafzinssatz steigt, die bisherigen
Kosten gehen zurück. Für die Banken Europas schätzt der Bundesverband deutscher Banken
(BdB) einen Rückgang der bisherigen Belastung mit jährlich 7,2 Mrd. Euro auf 5,5 Mrd.
€. Bei den deutschen Banken wird die jährliche Belastung mit derzeit 2,4 Mrd. € auf
1,9 Mrd. € schrumpfen. Als Vorbild dient die Schweizer Nationalbank (SNB), die den
Banken einen Freibetrag, der maximal 20-mal so hoch wie die Mindestreserve ist, einräumt.
Insgesamt bleibt für die deutschen Banken der Druck hoch, diese Kostenbelastung an
ihre Einleger mit Negativzinsen auf ihre Einleger weiter zu wälzen.
Diese Geldpolitik der EZB ist alternativlos. Sie bewegt sich jedoch im Dilemma. Die Kollateralschäden nehmen zu: Vermögenspreise, vor allem für Aktien und Immobilien steigen und private Haushalte müssen selbst bei der niedrigen Inflationsrate reale Vermögensverluste hinnehmen. Vor allem aber vermögen die billigen Kredite einen Investitionsboom nicht auszulösen: Die Pferde an der vollen Tränke mit Liquidität saufen nicht. Dazu muss die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gestärkt werden. Deshalb war die Forderung Draghis, die geldpolitischen Wirkungen durch eine aktive Finanzpolitik mit Investitionsprogrammen zu stärken, richtig.
2. Christine Lagarde: Weiterhin expansive Geldpolitik mit einigen Innovationen
Christine Lagarde wird diese Politik fortsetzen müssen. Sie hat bei der Anhörung
im Europaparlament „Innovationen“ bei den geldpolitischen Instrumenten angekündigt.
Dabei verfolgt sie das Ziel, „unerwünschte Nebeneffekte“ für die Vermögensmärkte und
die privaten Sparhaushalte zu miniminieren. Innovative Ergänzungen könnten sein:
* Anstatt der bisherigen Zielvorgabe der Inflation „unter, aber nahezu zwei Prozent“ ist ein symmetrisches Inflationsziel angedacht: Zwei Prozent in der mittleren Frist mit zeitweisen Abweichungen nach unten und oben, also auch über zwei Prozent hinaus.
* Mit der Differenzierung der Strafzinsen auf Einlagen bei der EZB durch Geschäftsbanken zugunsten etwa der Volks- und Sparkassen ist endgültig zu rechnen.
* Beim Aufkauf von Wertpapieren zur Versorgung der Banken mit Liquidität, die zur Kreditvergabe anregen soll, werden künftig klimafreundliche Finanzprodukte bevorzugt. Mit „grünen Anleihen“ will die Geldpolitik einen Beitrag zur nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung leisten.
* Darüber hinaus ist Christine Lagarde offen gegenüber Konzepten zum „Helikoptergeld“, demzufolge direkt Geld durch die EZB in den Wirtschaftskreislauf gepumpt wird. Auch sollen die großen Zentralbanken die Einführung einer gemeinsamen Digitalwährung überprüfen.
* Entscheidende Forderung: In der Tradition von Jean Claude Trichet und Mario Draghi wird die Finanzpolitik aufgefordert, ihren Beitrag zur Stärkung der Investitionen durch ein Infrastrukturprogramm zu leisten, denn, wie sie ausführt, die „Notenbank ist nicht die einzige Spielerin auf der Bühne“.
3. Wider den Populismus gegen die Zinspolitik der EZB
Christine Lagarde sollte sich durch die zu erwartende populistische
Polemik vor allem mit Mindestzinsgarantien für die Sparerinnen und Sparer
nicht einschüchtern lassen:
* Mindestzinssätze, wie von Markus Söder gefordert, suggerieren, dieser Preis hätte nichts mit den Märkten zu tun und die Marktzinsen ließen sich daher politisch verordnen.
* Die Forderung Zinsen auf Bankeinlagen bei der EZB zu verbieten, übersieht, dass die Notenbank die billige Liquidität nicht für Einlagen bei der EZB vorsieht, sondern die Vergabe von Krediten für Unternehmensinterventionen an unternehmerische Investoren erwartet. Dass Banken diese Zusatzkosten wiederum auf die Sparerinnen und Sparer überwälzen, lässt sich unter den obwaltenden Bedingungen nicht verbieten.
Werden die abstrusen Forderungen von Markus Söder, aber auch von Bankenvertretern verallgemeinert, dann zeigt sich, dass diese zumindest auf eine Teilabschaffung des Kapitalismus abzielen. Davon ist jedoch durch die Protagonisten nicht die Rede. Denn noch werden die Zinsen durch das Angebot an Ersparnissen und die Nachfrage nach Krediten allerdings unter dem Druck der Finanzmarktkrise bestimmt. Daher sind die Notenbanken auch eher Getriebene als Täter.
* Der Chef der Deutschen Bank Christian Sewing hat auf dem Bankengipfel des „Handelsblatts“ Anfang September 2019 mit seiner Attacke gegen die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank die Ursachen und Wirkungen auf den Kopf gestellt. Behauptet wird: „Die Niedrigzinsen ruinieren das Finanzsystem“. Dabei ist es das 2009 beinahe abgestürzte Finanzsystem, dessen Folgen heute noch die Geldpolitik belasten. Bis heute ist die wichtigste Ressource des Geldsystems, das Vertrauen, erschüttert. Dafür verantwortlich sind nicht die Notenbanken, sondern vor allem die hoch spekulativen Investmentbanken. Nach schwerem Versagen auch durch kriminelle Aktivitäten zur Renditesteigerung sollte sich die Deutsche Bank auf ihre Hausaufgaben konzentrieren und mit ihrer Restrukturierung zum der Gesamtwirtschaft dienenden Geschäftsmodell zurückfinden. Die EU-Bankenunion wird mit den Maßnahmen gegen die systemische Krisenanfälligkeit am Ende dazu beitragen, die Geldpolitik durch ein funktionierendes Bankensystem zu optimieren.
4. Ursachen der Minus-Nullzins-Geldpolitik diskutieren
Gegen die Polemiken und Ruinierungsvorwürfe steht die entscheidende
Ursache für die Zinsmisere mit den harten Kollateralschäden: Massive Überschüsse
an Ersparnissen gegenüber der viel zu geringen Abschöpfung durch kreditfinanzierte
Ausgaben ist das heutige Systemproblem. Vor allem durch die wachsende Gruppe der Vermögenden,
wie überhaupt durch das auch demografisch bedingte Sparen wächst das rentable, Anlage
suchende Kapital. Dagegen nimmt die Abschöpfung über Kredite für private Sachinvestitionen
und öffentliche Investitionen ab. Eine Ursache für den vergleichsweise geringeren
Bedarf an Großkapitalanlagen in der Unternehmenswirtschaft liegt in der Digitalisierung.
Gegenüber dem Sparen der privaten Haushalte bilden neuerdings die Produktionsunternehmen
im Verhältnis zu ihren Sachinvestitionen enorme Sparüberschüsse. Auch der Staat trägt
in Folge der Schuldenbremse zu Finanzüberschüssen bei.
In dieser Situation, die durch die gegenüber der Realwirtschaft verselbständigten Finanzmärkte verschärft wird, fällt dem Staat in einem ersten Schritt die Rolle zu, Zukunftsinvestitionen zu veranlassen. Hinzukommen muss gegenüber dem Übersparen eine Dekonzentration der Vermögen. Stabile Zinszahlungen auf Spareinlagen sind erst wieder zu erwarten, wenn eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung gesichert werden wird.
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Ausführlich: Zinswende der Europäischen Zentralbank
nicht in Sicht: Geldpolitik durch den Abbau des Übersparens mit aktiver Finanzpolitik
und Vermögensdekonzentration komplettieren; in:
EZB:
lang anhaltende Minuszinspolitik