Entwicklungsbremse „Nullverschuldung“
Mythos
Die „schwarze Null“ ist in Deutschland seit 2009 das gegenüber haushaltspolitischen und gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten verselbstständigte Ziel der Budgetpolitik. Seit 2012 haben sich auch 25 Mitgliedsländer der EU mit dem „Europäischen Fiskal-Pakt“ den Prinzipien der „schwarzen Null“ verpflichtet.
Beispiele zur Beschwörung der „schwarzen Null“ aus Deutschland und der EU:
*Angela Merkel mit ihrem diskriminierenden Vergleich staatlicher Haushaltspolitik nach dem Muster der „schwäbischen Hausfrau“ (01.12.2008) „ Man hätte einfach die schwäbische Hausfrau fragen sollen… Sie hätte uns eine Lebensweisheit gesagt: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.“
*Wolfgang Schäubles Vermächtnis: „Wir wollen auf neue Schulden verzichten, um den Staat langfristig handlungsfähig und widerstandsfähig zu machen.“ (17.05.2016)
* Europäischer Fiskal-Pakt mit dem Mythos im Titel:
„Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung der Wirtschafts-
und Währungsunion“ (unterzeichnet am 02.03.2012 ohne Großbritannien und
Tschechien, nach späterem Beitritt auch ohne Kroatien)
1. Regelungen und Rechtfertigungen des Mythos „schwarze Null“
2009 startete ein folgenreicher Paradigmenwechsel der öffentlichen Haushaltspolitik in Deutschland. Das Ziel, beim Haushaltsausgleich im Prinzip auf die Kreditfinanzierung zu verzichten, wurde vor nunmehr zehn Jahren in das Grundgesetz aufgenommen. Die Länder sollten ab 2020 ihr strukturelles Defizit auf null abschmelzen, also die „schwarze Null“ realisieren. Beim Bund wurden bereits ab 2016 nur noch strukturelle Defizite in Höhe von 0,35% bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt zugelassen. Vom Mythos der schädlichen Staatsschulden getrieben unterschreitet der Bund seit 2014 mit der Realisierung der „schwarzen Null“ das ihm durch die Verfassung zugestandene Defizit. Im letzten Jahr belief sich das laut Verfassung zulässige, jedoch nicht genutztes Kreditvolumen auf knapp 12 Mrd. €. Allerdings streng geregelt sind beim Bund und den Ländern Schwankungen der Ausgaben und Einnahmen gegenüber der „Normallage“ (Art. 109 Absatz 3 GG) konjunkturbedingte Defizite zulässig. Darüber hinaus sieht das Grundgesetz eine „Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“ (Art. 109 Absatz 3 GG) allerdings mit verpflichtenden Tilgungsplänen vor. Um das Ziel einer Nullverschuldung ab 2020 durch die Länder zu erreichen, ist dazu die „Schuldenbremse“, also die jährliche Reduktion der Neuverschuldung, umgesetzt worden. Finanzkraftschwache Länder wie Bremen und das Saarland erhalten Hilfe vom Bund durch jährliche Anpassungshilfen (pro Jahr 400 Mio. € je Land). Um jedoch dann ab dem Start der „schwarzen Null“ 2020 Haushaltsnotlagen prophylaktisch zu vermeiden, überwacht ein „Stabilitätsrat“ die Haushaltsführung von Bund und Ländern. Auf die Verknüpfung des deutschen Haushaltsrechts mit den entsprechenden Regeln des EU Fiskal-Pakts verweist die Verfassung.
Die kontrafaktischen Narrative zur Mythenbildung
Einem Tsunami vergleichbar sind die Jahrzehnte geltenden, vor allem gesamtwirtschaftliche
Argumente für die produktive Nutzung der öffentlichen Kreditaufnahme mit der nahezu
religiös daherkommenden Bewegung „Nullschulden“ hinweggespült worden. Sicherlich haben
der langjährige Anstieg der Staatsschulden sowie die Zinsbelastungen der öffentlichen
Haushalte vor allem in der langanhaltenden Hochzinsphase den Paradigmenwechsel vorbereitet.
Spätestens seit der Finanzmarktkrise ist auch noch sichtbar geworden, wie die Bankenkrise
vermittelt über die dort gehaltenen Staatsanleihen die Politik zu massiven Rettungsmaßnahmen
gezwungen hat. Die realen Probleme, die jedoch auch ohne den Verzicht auf eine ökonomisch
sinnvolle Kreditaufnahme des Staates hätten gelöst werden können, erklären allein
nicht die Heftigkeit der Forderung nach Nullverschuldung. Oftmals wird der Sack Staatsschulden
geprügelt, gemeint ist jedoch der aktive sozial-ökologische Interventionsstaat. Nahezu
mit religiösem Eifer wird, wie der Umgang mit der Griechenlandkrise zeigt, schuldhaftes
Verhalten durch verschwenderische Staatsschulden unterstellt. Der Sünde durch Schuldenmacherei
folgt die Sühne. Paul Krugman, der auf den pseudoreligiösen Zusammenhang hinweist,
erklärt, wie der exzessiven Staatsverschuldung die Bestrafung durch Austeritätspolitik
vor allem mit der Demontage des Sozialstaates folgt. Jedenfalls steht fest, ein tiefes
Misstrauen in die handelnde Politik, die nur ihren Eigennutzen maximiert, treibt die
Nullschulden-Propagandisten an. Am Ende wird mit der Automatik der Schuldenbegrenzung
der Politik in der parlamentarischen Demokratie das Recht der souveränen Haushaltsgestaltung
hier mit dem Instrument öffentlicher Kreditfinanzierung entrissen. Was der Politik
an Gestaltungsmöglichkeit untersagt wird, erhöht den Druck, die gesamte Budgetpolitik
den Triebkräften des vermachteten Marktwettbewerbs unterzuordnen. Insoweit ist die
„schwarze Null“ ideologisch ein Instrument der neoliberalen Teilentstaatlichung, also
des Verlustes über die Souveränität der Kreditfinanzierung.
Die im engeren
Sinne angeführten ökonomischen Behauptungen zur Rechtfertigung dieses Mythos zeigen,
es geht um die Herauslösung des Staates aus seiner makroökonomischen Verantwortung.
Behauptet werden durch die exzessive Staatsverschuldung ausgelöste gesamtwirtschaftliche
Schäden: Öffentliche Kreditaufnahme führe zur Inflation und am Ende zum Zusammenbruch
der Währungsordnung. Sie verdränge private Investitionen durch steigende Zinsen und
verhindere wirtschaftliches Wachstum und damit Arbeitsplätze. Schließlich würden die
Lasten der heute verschwenderisch genutzten Verschuldung an die kommenden Generationen
vererbt.
Diese Behauptungen müssen unter die Lupe genommen werden. Lassen
sich diese widerlegen, dann enttarnt sich das Narrativ von der schädlichen Staatsverschuldung
als Mythos. Nach zehn Jahren negativer Erfahrungen mit dem Bremsen der Schulden in
Richtung Null hilft auch die Empirie, diesen Mythos zu entlarven.
2.
Die Widerlegung der Ideologie vom stabilen Wohlstand schaffenden Staat ohne Kreditfinanzierung:
Zum einen wird mit dem Prinzip der schwarzen Null
der parlamentarischen Demokratie die Möglichkeit entzogen, verantwortungsvoll das
Instrument der öffentlichen Kreditfinanzierung einzusetzen. Hinter dem prinzipiellen
Verbot struktureller Haushaltsdefizite wird den Länderparlamenten und dem Deutschen
Bundestag unterstellt, ihnen fehle die Kompetenz zur Haushaltsgestaltung vor allem
mit dem Schuldeninstrumentarium.
Zum anderen
werden mit dem prinzipiellen Neuverschuldungsgebot die gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten
sowie die positiven Wirkungen öffentlicher Infrastrukturinvestitionen für künftige
Generationen geleugnet. Diese mikroökonomische Blickverengung erzeugt
makroökonomische Blindheit. Der Basisirrtum ist die Behauptung, für
den Staat gälte wie für die privaten Haushalte der Grundsatz, ausgegeben werden kann
nur das, was per ordentlichen Einnahmen auch erzielt worden ist. Merkels diskriminierender
Vergleich mit der „schwäbischen Hausfrau“ lässt grüßen. Weitere abenteuerliche Warnschilder,
durch das einzelwirtschaftliche Verhalten begründet, werden aufgestellt. So haben
Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart in einer international vergleichenden Studie, deren
Ergebnisse unter dem Titel „Growth in a Time of Debt“ im „American Review“ (Mai 2010)
veröffentlicht wurden, mitgeteilt: Wird der Schwellenwert von 90% Gesamtschulden im
Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt überschritten, dann sinke das Wirtschaftswachstum.
Dieser Schwellenwert ist auch in Deutschland nachgeplappert worden. Selbst nachdem
smarte Studierende der Studie schwere methodische und empirische Mängel nachgewiesen
haben, ist dieses Warnschild immer noch nicht aus dem Verkehr gezogen worden.
Die daraus ableitbaren wichtigsten Argumente für die makroökonomische Verantwortung
der Politik, die sich auch gegen systemisches Marktversagen richtet, offenbaren die
Orientierung an einer marktfundamentalistischen Ideologie vom schuldenfreien Schrumpfstaat.
Erstens: Bei der Mystifizierung der expandierenden
Staatsverschuldung als das Übel der Wirtschaft hat sich vor Jahren ein Wechsel ergeben.
Die ersten wirksamen Kampagnen gegen die öffentliche Kreditaufnahme waren Anfang der
neunzehnhundertsiebziger Jahren von der Sorge einer galoppierenden Inflation bis hin
zur zerstörerischen Wirkung des Währungssystems bestimmt. Die Inflationsraten waren
schon damals nicht bedrohlich. Jedenfalls konnte der Beweis für die monokausale Behauptung,
die Inflation sei auf die wachsende Staatsverschuldung zurückzuführen, theoretisch
nicht geführt worden. Die Wahrheit ist: Als schließlich die öffentliche Neuverschuldung
in Deutschland schnell zunahm, kam es nicht zu der prognostizierten Inflation. Im
Gegenteil, die Inflation bewegte sich auf niedrigem Niveau, ja, nach 2012 drohte immer
wieder eine Deflation, also ein Preisverfall auf breiter Front. Noch bei der Gründung
der Europäischen Währungsunion waren die Defizitkriterien zur Feststellung der Konvergenz
als Voraussetzung für die Aufnahme in das Eurosystem an dem Ziel ausgerichtet, den
Euro als Inflationswährung zu verhindern. Die sog. Maastricht-Kriterien sahen vor:
maximal 3 % Neuverschuldung und 60 % Gesamtverschuldung jeweils bezogen auf das nominale
Bruttoinlandsprodukt. Hinter den miteinander verknüpften Kriterien steht der Optimismus
einer stetig mit 5% wachsenden Wirtschaft. Diese programmierte Wachstumserwartung
sollte sich jedoch bald als die „Illusion von der immerwährenden Prosperität“ entlarven
Nicht die Inflation ist heute das Problem, sondern die viel zu hohe Wachstumsannahme
bei den Defizitkriterien. Heute treibt nicht die hohe Staatsverschuldung die Inflation.
Vielmehr ist es die tendenzielle Nachfrageschwäche, die trotz der hohen Geldüberschüsse,
die auf den Finanzmärkten vagabundieren, welche die auffällig niedrige Inflation begründet.
Zweitens: In der Verfassung wird zwar zwischen
strukturellen und konjunkturellen Defiziten unterschieden. Für das Ausmaß der durch
die konjunkturelle Entwicklung schwankenden Steuereinnahmen und Ausgaben werden dem
Bund und Ländern im Konzept der „schwarzen Null“ Möglichkeiten einer antizyklischen
Haushaltspolitik zugestanden. Sinken im Abschwung die Steuereinnahmen und steigen
zugleich die krisenbedingten Sozialausgaben etwa durch Arbeitslosigkeit, dann sind
die daraus folgenden Haushaltsdefizite zulässig. Denn, würden diese durch Ausgabenkürzungen
und/oder durch erhöhte Staatseinnahmen bekämpft, dann würde der Absturz der Wirtschaft
beschleunigt. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Regelung im Grundgesetz
(Art. 109, 3) zu den zulässigen konjunkturellen Defiziten vor allem durch die Bereinigungsverfahren
eher die prozyklische Tendenz stärken. Übrigens stellt sich die Frage, welcher Zyklus
– Deutschland, EU, globale Perspektive – relevant ist. Hier zeigt sich, die aus den
Erfahrungen nicht nur durch die der Weltwirtschaftskrise (1928-1932) entwickelte staatliche
Aufgabe antizyklischer Finanzpolitik wird heute eher als ordnungspolitisches „Übel“,
denn als strategisches Konzept zur Vermeidung von Wirtschaftsabschwüngen verstanden.
Drittens: Durch die ideologische Reduktion der Handlungsmöglichkeiten
einer antizyklischen Fiskalpolitik wird eine besondere makroökonomische Wirkung viel
zu wenig genutzt. Vergleichende Studien zeigen, dass heute bei staatlichen, kreditfinanzierten
Investitionsprogrammen mit einem Multiplikator um 1,3 zu rechnen ist. Staatsausgaben
führen in der ersten Runde mit der dadurch ausgelösten Produktion zu wachsenden Arbeitseinkommen
und daraus finanziertem Konsum, dem dann weitere Perioden des Zuwachses folgen.
Nehmen die staatlichen Investitionsausgaben um 10 Mio. € zu, dann sind – je
nach Untersuchung – bis zu 13 Mio. € an gesamtwirtschaftlichem Produktionszuwachs
zu erwarten. Die vorher aufgenommenen Kredite für das Investitionsprogramm sind also
refinanzierbar. Wenn der Staat dagegen Investitionen reduziert, wird ein negativer
Multiplikator ausgelöst, d.h. der Rückgang der Produktion ist größer als die Kürzung
der Ausgaben. Die unter dem Regime der Schuldenbremse seit Jahren reduzierten öffentlichen
Investitionen haben eine doppelte Fehlwirkung: Abbau des öffentlichen Kapitalstocks
sowie der Verzicht auf die Stärkung der binnenwirtschaftlichen Nachfrage, vor allem
zugunsten der privaten Investitionen.
Viertens:
Auch trifft die Behauptung, durch die wachsende Staatsverschuldung würde ein Crowding-Out
im Nullschuldenland produziert, nicht zu: Mit höherer Staatsverschuldung sind zunehmende
Zinssätze und infolge davon sinkende kreditfinanzierte Privatinvestitionen nicht zu
erwarten. Zum einen wachsen die Zinssätze nicht automatisch mit der Zunahme der Staatsverschuldung.
In den letzten Jahren zeigt sich, dass die Kapitalmarktzinsen trotz enorm steigender
Staatsschulden deutlich zurückgegangen sind. Die Fremdfinanzierungszinssätze werden
vielmehr durch die niedrigen Inflationserwartungen bestimmt. Hinzu kommt die Nullzinspolitik
der Europäischen Zentralbank, die auf die Überwindung der privaten Investitionsschwäche
zielt. Zum anderen sind die privaten Investitionen vor allem im Klima der vagabundierenden
Geldüberschüsse nicht von der Höhe der Kreditzinsen abhängig. In dieser Konstellation
führt die schuldenfinanzierte Finanzpolitik über die Steigerung der effektiven Gesamtnach-frage
eher zum Crowding-In, also einer Stärkung der Privatinvestitionen. Gegen den Mythos
steht die Wahrheit: Kreditfinanzierte öffentliche Infrastrukturmaßnahmen stärken über
die binnenwirtschaftlichen Nachfrageeffekte Unternehmensinvestitionen in der Privatwirtschaft.
Fünftens: Was die neoklassische Kritik an der
Staatsverschuldung übersieht, ist die durch die öffentliche Kreditaufnahme bewirkte
notwendige Abschöpfung der überschüssigen Geldvermögen. Die Zusammenhänge lassen sich
durch die gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung erkennen. Dazu sind die Sektoren
private Haushalte, produzierende Wirtschaft (nicht finanzielle Kapitalgesellschaften),
Staat und Ausland zu berücksichtigen. Gegenüber dem weit über die Sachinvestitionen
hinausgehenden Sparen nicht nur der privaten Haushalte, sondern mittlerweile auch
durch die produzierenden Unternehmen wird im Zuge des staatlichen Verzichts auf die
Aufnahme öffentlicher Kredite volkswirtschaftliche Ausgaben verzichtet. Anstatt das
„Übersparen“ durch kreditfinanzierte öffentliche Investitionsausgaben abzubauen, trägt
der deutsche Staat mit seinen Finanzierungsüberschüssen zum Übersparen bei. Die jährliche
Nettogeldvermögensbildung der privaten Haushalte sowie auch der nichtfinanziellen
Unternehmen wird durch den Staat nicht abgeschöpft. Vielmehr trägt ab 2014 der Gesamtstaat
selbst zum Zuwachs des volkswirtschaftlichen Sparens bei.
Die Deutsche
Bundesbank zeigt mit ihrer „gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung“, dass seit
2000 die Finanzierungsüberschüsse der nicht-finanziellen Kapitalgesellschaften – hier
Produktionsunternehmen genannt – zunehmen (siehe Tabelle „Gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung“).
Die produzierende Unternehmenswirtschaft fällt also als Kreditnehmer gegenüber den
Überschüssen in anderen Sektoren der Volkswirtschaft aus. Sie sind also nicht mehr
wie früher bereit, einen Teil der Überschüsse der privaten Haushalte per Kredite in
Investitionsnachfrage zu transformieren. Allein im Jahr 2016 haben die Produktionsunternehmen
bei nur 43,30 Mrd. € Sachvermögensbildung (Nettoinvestitionen) über 128 Mrd. € gespart.
Der Finanzierungsüberschuss belief sich auf über 111,88 Mrd. €. Eigenmittel werden
im Durchschnitt weniger zur Finanzierung von Sachinvestitionen genutzt. Gesamtwirtschaftlich
entscheidend ist, dass seit einigen Jahren zu den riesigen Sparsummen der privaten
Haushalte das Sparen der Produktionsunternehmen und neuerdings des Staates dazukommen.
Die Folge dieses inländischen Übersparens sind die enorm gewachsenen Verbindlichkeiten
der übrigen Welt gegenüber Deutschland. Die steigende Auslandsverschuldung infolge
der Nullschuldenstrategie lässt die Exporte im Verhältnis zu den Importen und damit
die viel kritisierten Überschüsse der Leistungsbilanz steigen (Rekordniveau 2015 8,9
% bezogen auf das nominale Bruttoinlandsprodukt).
Die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge lehren: Finanzpolitik muss dazu beitragen,
dieses gesamtwirtschaftliche Übersparen zu reduzieren: Instrumente sind kreditfinanzierte
Investitionen des Staates, aber auch eine Steuerpolitik, die bei den Unternehmen Überschüsse
abschöpft. Dadurch würde eine gesamtwirtschaftlich nachhaltige Entwicklung gestärkt
und die materielle wie immaterielle, durch den Staat verantwortete Infrastruktur,
sichergestellt.
Sechstens: Öffentliche Kredite
sind das einzige staatliche Instrument, mit dem künftige Generationen an der Finanzierung
staatlicher Investitionen beteiligt werden können. Wenn heute dagegen öffentliche
Investitionen aus Steuern bezahlt werden, dann geschieht dies einzig und allein aus
der aktuellen Wertschöpfung. Während der Nutzen auch bei künftigen Generationen anfällt,
übernimmt die komplette Finanzierungsbelastung nur die heutige Generation. Dagegen
wird durch die staatliche Inanspruchnahme der Kreditmärkte die Finanzierung im Zuge
der jährlichen Zinszahlungen und Tilgungen auf künftige Generationen verteilt.
Der Nestor der Finanzwissenschaft, Richard A. Musgrave“ (1939 / 1959) verwies
auf das „Pay as You Use-Prinzip“, d.h. die künftigen Nutzer sollten an der Finanzierung
beteiligt werden. Diese intergenerative Sicht lenkt den Blick auf die Frage, was künftigen
Generationen vererbt werden wird. Das vorherrschende Vorurteil gegen die Staatsverschuldung
lautet: Durch die öffentliche Kreditaufnahme vererbt die heute verschwenderische Generation
schwere Lasten an künftige Generationen. Von moralisch verwerflichem Verhalten ist
nicht nur an den Stammtischen die Rede. Gegen diesen konstruierten Generationenkonflikt
steht die Tatsache, dass mit sinnvollen öffentlichen Investitionen in die Zukunft
nützliches Staatsvermögen vererbt wird. Die künftige Generation ist beispielsweise
der Nutznießer von heute veranlassten Investitionen in die Bildungsinfrastruktur und
eine bessere Umwelt. Auch die Realisierung moderner Verkehrssysteme schafft der künftigen
Generation einen Nutzen. Also, es kommt auf die heutige Verantwortung für öffentliche
Investitionen zugunsten der künftigen Generation an. Vererbt wird allerdings ein doppeltes
Verteilungsproblem: Zum einen stellt sich die Frage, auf wen sich die staatlichen
Vermögenstitel, für die im Prinzip Zinsen ausgeschüttet werden, konzentrieren. Zum
anderen ist zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß unterschiedliche soziale Gruppen
relativ zum Steueraufkommen beitragen. In Hochzinsphasen war das Verteilungsproblem
relevant: Vermögende erzielten hohe Zinsen für ihr Eigentum an Staatstiteln, während
die Lohnabhängigen mit den Massensteuern die Zinsausgaben finanzierten. Da von einer
anhaltenden Niedrigzinsphase auszugehen ist, entschärft sich der Konflikt.
Siebtens: Die Finanzierung öffentlicher Investitionen
durch die Beanspruchung der Kapitalmärkte ist mit der verfassungsrechtlichen Verankerung
der schwarzen Null Bundesländern ab 2020 verboten und beim Bund auf 035% des Bruttoinlandprodukts
eingeschränkt worden. Die zuvor geltende „goldene Regel“ des ehemaligen Artikels
115 Grundgesetz gab den kredtitfinanzierten Staatsinvestitionen einen Verfassungsrang.
Nachgebildet ist diese staatliche Investitionsregel der Unternehmenswirtschaft. Bei
den Unternehmen wird der Kapitaldienst für die Fremdfinanzierung aus den künftig zu
erzielenden Erträgen finanziert, ist also von der erzielten Ertragsrate abhängig.
Beim Staat refinanziert sich dagegen die Staatsverschuldung aus der mit den Infrastrukturinvestitionen
erzielten, gesamtwirtschaftlichen Ertragsrate, die sich in einem Zuwachs an Steuereinnahmen
niederschlägt. Sicherlich war es falsch, auch konsumtive Ausgaben des Staates über
Kredite zu finanzieren. Der makroökonomische Sinn der „goldenen Regel“ ist, durch
staatliche Kreditaufnahme für Infrastrukturinvestitionen die volkswirtschaftliche
Ertragsrate und damit die Steuereinnahmen zu steigern. Immerhin hat der „Sachverständigenrat
zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ in seinem Jahresgutachten
2007 dem Mythos der Staatsschulden, nach dem die „Goldene Regel“ negativ wirkt, widersprochen:
„Deutschland zählt dabei zu den Ländern, in denen die Ertragsrate der öffentlichen
Investitionen noch vergleichsweise hoch ist und damit die Kreditfinanzierung dieser
investiven Ausgaben, wie es die Goldene Regel der Finanzpolitik ermöglicht, durchaus
zu rechtfertigen ist.“ Gegenüber einer Politik der Senkung der Unternehmenssteuern
ist die gezielte Stärkung des qualitativen Wirtschaftswachstums durch eine gezielte
Aufnahme öffentlicher Kredite für Infrastrukturinvestitionen deutlich überlegen. Dagegen
hat die Politik der Steuersenkungen durch die rot-grüne Bundesregierung Anfang dieses
Jahrtausends mangels Wachstumsimpulsen und damit Steuermehreinnahmen die Staatsschulden
nach oben getrieben. Diese abenteuerliche Art der Politik steht gegen die hier dargelegten
Argumente für eine gesamtwirtschaftlich rationale Nutzung der öffentlichen Kreditfinanzierung.
3. Schlussfolgerung: Zurück zur „goldenen Regel“
Zehn Jahre Erfahrungen mit einer Finanzpolitik unter dem verselbstständigten Ziel,
durch die Schuldenbremse die „schwarze Null“ zu erreichen, zeigen, diese öffentliche
Haushaltspolitik ist gescheitert:
* Der schon seit 2003 erkennbare Trend
rückläufiger öffentlicher Infrastrukturinvestitionen ist durch die Schuldenbremse
beschleunigt worden. Dabei sind nicht einmal im Ausmaß des Kapitalverzehrs (Abschreibungen)
Ersatz- und Reparaturinvestitionen realisiert worden. Der öffentliche Kapitalstock
ist dadurch geschrumpft. Dafür stehen kaputte Straßen und Brücken sowie beispielsweise
Schulen und Gebäude der Universitäten. Beispiele für die volkswirtschaftlichen Schäden
sind massive Mobilitätsengpässe und steigende Kosten der Verkehrslogistik aber auch
der Frust in den Schulen. Dabei ist heute der Sanierungsbedarf im Bereich der öffentlichen
Infrastruktur auf die Schnelle nicht aufhebbar.
* Die Schuldenbremse vor
allem auf der Ebene der Länder mit dem Ziel, ab 2020 keine Neuverschuldung durchzusetzen,
hat über die Weitergabe der Sparzwänge durch die Länder verheerende Folgen für die
ohnehin schon finanzkraftschwachen Kommunen. Der kommunale Investitionsrückstand liegt
nach Schätzungen zwischen 2015 und 2017 kumulativ bei 159 Mrd. €. Allein innerhalb
der Verkehrsinfrastruktur sind es knapp 39 Mrd. € und bei Schulen über 47 Mrd. €.
* Die Schwäche der öffentlichen Investitionen schlägt über den Verzicht, die
binnenwirtschaftliche Nachfrage zu stärken, auf die gebremste Investitionsaktivität
der Unternehmenswirtschaft durch. Ökologisch gestaltbare Wachstumsprozente sind verschenkt
worden.
* Der permanente Druck des Abbaus der Neuverschuldung hat vor
allem zu Kürzungen im Sozialstaat geführt und auch den Druck auf die Steuerpolitik
erzeugt.
* Durch den heutigen Verzicht auf kreditfinanzierte Infrastrukturinvestitionen
in eine zukunftsfähige Verkehrs- und Bildungspolitik sowie vor allem in Umweltprojekte
werden kommenden Generationen belastende Lebens- und Produktionsbedingungen vererbt.
Der Mythos von den wohlstandsstiftenden Segnungen einer „schwarzen Null“
ist aufgeflogen. Die „goldene Regel“, die die staatliche Kreditfinanzierung öffentlicher
Investitionen rechtfertigt, sollte finanzpolitisch wieder reaktiviert werden. Dadurch
kann die heutige Generation gesamtwirtschaftlich und vor allem ökologisch Verantwortung
für künftige Generationen wahrnehmen.