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Entwicklungsbremse „Nullverschuldung“

Jun 21, 2019
Mythos: „Die schwarze Null garantiert solide Staatshaushalte“

Mythos

Die „schwarze Null“ ist in Deutschland seit 2009 das gegenüber haushaltspolitischen und gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten verselbstständigte Ziel der Budgetpolitik. Seit 2012 haben sich auch 25 Mitgliedsländer der EU mit dem „Europäischen Fiskal-Pakt“ den Prinzipien der „schwarzen Null“ verpflichtet.

Beispiele zur Beschwörung der „schwarzen Null“ aus Deutschland und der EU:

*Angela Merkel mit ihrem diskriminierenden Vergleich staatlicher Haushaltspolitik nach dem Muster der „schwäbischen Hausfrau“ (01.12.2008) „ Man hätte einfach die schwäbische Hausfrau fragen sollen… Sie hätte uns eine Lebensweisheit gesagt: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.“

*Wolfgang Schäubles Vermächtnis: „Wir wollen auf neue Schulden verzichten, um den Staat langfristig handlungsfähig und widerstandsfähig zu machen.“ (17.05.2016)

* Europäischer Fiskal-Pakt mit dem Mythos im Titel: „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung der Wirtschafts- und Währungsunion“ (unterzeichnet am 02.03.2012 ohne Großbritannien und Tschechien, nach späterem Beitritt auch ohne Kroatien)



1. Regelungen und Rechtfertigungen des Mythos „schwarze Null“

Der verfassungsrechtlich verordnete Umgang mit Defiziten
2009 startete ein folgenreicher Paradigmenwechsel der öffentlichen Haushaltspolitik in Deutschland. Das Ziel, beim Haushaltsausgleich im Prinzip auf die Kreditfinanzierung zu verzichten, wurde vor nunmehr zehn Jahren in das Grundgesetz aufgenommen. Die Länder sollten ab 2020 ihr strukturelles Defizit auf null abschmelzen, also die „schwarze Null“ realisieren.  Beim Bund wurden bereits ab 2016 nur noch strukturelle Defizite in Höhe von 0,35% bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt zugelassen. Vom Mythos der schädlichen Staatsschulden getrieben unterschreitet der Bund seit 2014 mit der Realisierung der „schwarzen Null“ das ihm durch die Verfassung zugestandene Defizit. Im letzten Jahr belief sich das laut Verfassung zulässige, jedoch nicht genutztes Kreditvolumen auf knapp 12 Mrd. €.  Allerdings streng geregelt sind beim Bund und den Ländern Schwankungen der Ausgaben und Einnahmen gegenüber der „Normallage“ (Art. 109 Absatz 3 GG) konjunkturbedingte Defizite zulässig. Darüber hinaus sieht das Grundgesetz eine „Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen“ (Art. 109 Absatz 3 GG) allerdings mit verpflichtenden Tilgungsplänen vor. Um das Ziel einer Nullverschuldung ab 2020 durch die Länder zu erreichen, ist dazu die „Schuldenbremse“, also die jährliche Reduktion der Neuverschuldung, umgesetzt worden. Finanzkraftschwache Länder wie Bremen und das Saarland erhalten Hilfe vom Bund durch jährliche Anpassungshilfen (pro Jahr 400 Mio. € je Land). Um jedoch dann ab dem Start der „schwarzen Null“ 2020 Haushaltsnotlagen prophylaktisch zu vermeiden, überwacht ein „Stabilitätsrat“ die Haushaltsführung von Bund und Ländern. Auf die Verknüpfung des deutschen Haushaltsrechts mit den entsprechenden Regeln des EU Fiskal-Pakts verweist die Verfassung.


Die kontrafaktischen Narrative zur Mythenbildung
Einem Tsunami vergleichbar sind die Jahrzehnte geltenden, vor allem gesamtwirtschaftliche Argumente für die produktive Nutzung der öffentlichen Kreditaufnahme mit der nahezu religiös daherkommenden Bewegung „Nullschulden“ hinweggespült worden. Sicherlich haben der langjährige Anstieg der Staatsschulden sowie die Zinsbelastungen der öffentlichen Haushalte vor allem in der langanhaltenden Hochzinsphase den Paradigmenwechsel vorbereitet. Spätestens seit der Finanzmarktkrise ist auch noch sichtbar geworden, wie die Bankenkrise vermittelt über die dort gehaltenen Staatsanleihen die Politik zu massiven Rettungsmaßnahmen gezwungen hat. Die realen Probleme, die jedoch auch ohne den Verzicht auf eine ökonomisch sinnvolle Kreditaufnahme des Staates hätten gelöst werden können, erklären allein nicht die Heftigkeit der Forderung nach Nullverschuldung. Oftmals wird der Sack Staatsschulden geprügelt, gemeint ist jedoch der aktive sozial-ökologische Interventionsstaat. Nahezu mit religiösem Eifer wird, wie der Umgang mit der Griechenlandkrise zeigt, schuldhaftes Verhalten durch verschwenderische Staatsschulden unterstellt. Der Sünde durch Schuldenmacherei folgt die Sühne. Paul Krugman, der auf den pseudoreligiösen Zusammenhang hinweist, erklärt, wie der exzessiven Staatsverschuldung die Bestrafung durch Austeritätspolitik vor allem mit der Demontage des Sozialstaates folgt. Jedenfalls steht fest, ein tiefes Misstrauen in die handelnde Politik, die nur ihren Eigennutzen maximiert, treibt die Nullschulden-Propagandisten an. Am Ende wird mit der Automatik der Schuldenbegrenzung der Politik in der parlamentarischen Demokratie das Recht der souveränen Haushaltsgestaltung hier mit dem Instrument öffentlicher Kreditfinanzierung entrissen. Was der Politik an Gestaltungsmöglichkeit untersagt wird, erhöht den Druck, die gesamte Budgetpolitik den Triebkräften des vermachteten Marktwettbewerbs unterzuordnen. Insoweit ist die „schwarze Null“ ideologisch ein Instrument der neoliberalen Teilentstaatlichung, also des Verlustes über die Souveränität der Kreditfinanzierung.

Die im engeren Sinne angeführten ökonomischen Behauptungen zur Rechtfertigung dieses Mythos zeigen, es geht um die Herauslösung des Staates aus seiner makroökonomischen Verantwortung. Behauptet werden durch die exzessive Staatsverschuldung ausgelöste gesamtwirtschaftliche Schäden: Öffentliche Kreditaufnahme führe zur Inflation und am Ende zum Zusammenbruch der Währungsordnung. Sie verdränge private Investitionen durch steigende Zinsen und verhindere wirtschaftliches Wachstum und damit Arbeitsplätze. Schließlich würden die Lasten der heute verschwenderisch genutzten Verschuldung an die kommenden Generationen vererbt.

Diese Behauptungen müssen unter die Lupe genommen werden. Lassen sich diese widerlegen, dann enttarnt sich das Narrativ von der schädlichen Staatsverschuldung als Mythos. Nach zehn Jahren negativer Erfahrungen mit dem Bremsen der Schulden in Richtung Null hilft auch die Empirie, diesen Mythos zu entlarven.

2. Die Widerlegung der Ideologie vom stabilen Wohlstand schaffenden Staat ohne Kreditfinanzierung:

Zum einen wird mit dem Prinzip der schwarzen Null der parlamentarischen Demokratie die Möglichkeit entzogen, verantwortungsvoll das Instrument der öffentlichen Kreditfinanzierung einzusetzen. Hinter dem prinzipiellen Verbot struktureller Haushaltsdefizite wird den Länderparlamenten und dem Deutschen Bundestag unterstellt, ihnen fehle die Kompetenz zur Haushaltsgestaltung vor allem mit dem Schuldeninstrumentarium.

Zum anderen werden mit dem prinzipiellen Neuverschuldungsgebot die gesamtwirtschaftlichen Notwendigkeiten sowie die positiven Wirkungen öffentlicher Infrastrukturinvestitionen für künftige Generationen geleugnet. Diese mikroökonomische Blickverengung erzeugt makroökonomische Blindheit. Der Basisirrtum ist die Behauptung, für den Staat gälte wie für die privaten Haushalte der Grundsatz, ausgegeben werden kann nur das, was per ordentlichen Einnahmen auch erzielt worden ist. Merkels diskriminierender Vergleich mit der „schwäbischen Hausfrau“ lässt grüßen. Weitere abenteuerliche Warnschilder, durch das einzelwirtschaftliche Verhalten begründet, werden aufgestellt. So haben Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart in einer international vergleichenden Studie, deren Ergebnisse unter dem Titel „Growth in a Time of Debt“ im „American Review“ (Mai 2010) veröffentlicht wurden, mitgeteilt: Wird der Schwellenwert von 90% Gesamtschulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt überschritten, dann sinke das Wirtschaftswachstum. Dieser Schwellenwert ist auch in Deutschland nachgeplappert worden. Selbst nachdem smarte Studierende der Studie schwere methodische und empirische Mängel nachgewiesen haben, ist dieses Warnschild immer noch nicht aus dem Verkehr gezogen worden.

Die daraus ableitbaren wichtigsten Argumente für die makroökonomische Verantwortung der Politik, die sich auch gegen systemisches Marktversagen richtet, offenbaren die Orientierung an einer marktfundamentalistischen Ideologie vom schuldenfreien Schrumpfstaat.

Erstens
: Bei der Mystifizierung der expandierenden Staatsverschuldung als das Übel der Wirtschaft hat sich vor Jahren ein Wechsel ergeben. Die ersten wirksamen Kampagnen gegen die öffentliche Kreditaufnahme waren Anfang der neunzehnhundertsiebziger Jahren von der Sorge einer galoppierenden Inflation bis hin zur zerstörerischen Wirkung des Währungssystems bestimmt. Die Inflationsraten waren schon damals nicht bedrohlich. Jedenfalls konnte der Beweis für die monokausale Behauptung, die Inflation sei auf die wachsende Staatsverschuldung zurückzuführen, theoretisch nicht geführt worden. Die Wahrheit ist: Als schließlich die öffentliche Neuverschuldung in Deutschland schnell zunahm, kam es nicht zu der prognostizierten Inflation. Im Gegenteil, die Inflation bewegte sich auf niedrigem Niveau, ja, nach 2012 drohte immer wieder eine Deflation, also ein Preisverfall auf breiter Front. Noch bei der Gründung der Europäischen Währungsunion waren die Defizitkriterien zur Feststellung der Konvergenz als Voraussetzung für die Aufnahme in das Eurosystem an dem Ziel ausgerichtet, den Euro als Inflationswährung zu verhindern. Die sog. Maastricht-Kriterien sahen vor: maximal 3 % Neuverschuldung und 60 % Gesamtverschuldung jeweils bezogen auf das nominale Bruttoinlandsprodukt. Hinter den miteinander verknüpften Kriterien steht der Optimismus einer stetig mit 5% wachsenden Wirtschaft. Diese programmierte Wachstumserwartung sollte sich jedoch bald als die „Illusion von der immerwährenden Prosperität“ entlarven Nicht die Inflation ist heute das Problem, sondern die viel zu hohe Wachstumsannahme bei den Defizitkriterien. Heute treibt nicht die hohe Staatsverschuldung die Inflation. Vielmehr ist es die tendenzielle Nachfrageschwäche, die trotz der hohen Geldüberschüsse, die auf den Finanzmärkten vagabundieren, welche die auffällig niedrige Inflation begründet.

Zweitens: In der Verfassung wird zwar zwischen strukturellen und konjunkturellen Defiziten unterschieden. Für das Ausmaß der durch die konjunkturelle Entwicklung schwankenden Steuereinnahmen und Ausgaben werden dem Bund und Ländern im Konzept der „schwarzen Null“ Möglichkeiten einer antizyklischen Haushaltspolitik zugestanden. Sinken im Abschwung die Steuereinnahmen und steigen zugleich die krisenbedingten Sozialausgaben etwa durch Arbeitslosigkeit, dann sind die daraus folgenden Haushaltsdefizite zulässig. Denn, würden diese durch Ausgabenkürzungen und/oder durch erhöhte Staatseinnahmen bekämpft, dann würde der Absturz der Wirtschaft beschleunigt. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Regelung im Grundgesetz (Art. 109, 3) zu den zulässigen konjunkturellen Defiziten vor allem durch die Bereinigungsverfahren eher die prozyklische Tendenz stärken. Übrigens stellt sich die Frage, welcher Zyklus – Deutschland, EU, globale Perspektive – relevant ist. Hier zeigt sich, die aus den Erfahrungen nicht nur durch die der Weltwirtschaftskrise (1928-1932) entwickelte staatliche Aufgabe antizyklischer Finanzpolitik wird heute eher als ordnungspolitisches „Übel“, denn als strategisches Konzept zur Vermeidung von Wirtschaftsabschwüngen verstanden.

Drittens: Durch die ideologische Reduktion der Handlungsmöglichkeiten einer antizyklischen Fiskalpolitik wird eine besondere makroökonomische Wirkung viel zu wenig genutzt. Vergleichende Studien zeigen, dass heute bei staatlichen, kreditfinanzierten Investitionsprogrammen mit einem Multiplikator um 1,3 zu rechnen ist. Staatsausgaben führen in der ersten Runde mit der dadurch ausgelösten Produktion zu wachsenden Arbeitseinkommen und daraus finanziertem Konsum, dem dann weitere Perioden des Zuwachses folgen.

Nehmen die staatlichen Investitionsausgaben um 10 Mio. € zu, dann sind – je nach Untersuchung – bis zu 13 Mio. € an gesamtwirtschaftlichem Produktionszuwachs zu erwarten. Die vorher aufgenommenen Kredite für das Investitionsprogramm sind also refinanzierbar. Wenn der Staat dagegen Investitionen reduziert, wird ein negativer Multiplikator ausgelöst, d.h. der Rückgang der Produktion ist größer als die Kürzung der Ausgaben. Die unter dem Regime der Schuldenbremse seit Jahren reduzierten öffentlichen Investitionen haben eine doppelte Fehlwirkung: Abbau des öffentlichen Kapitalstocks sowie der Verzicht auf die Stärkung der binnenwirtschaftlichen Nachfrage, vor allem zugunsten der privaten Investitionen.

Viertens: Auch trifft die Behauptung, durch die wachsende Staatsverschuldung würde ein Crowding-Out im Nullschuldenland produziert, nicht zu: Mit höherer Staatsverschuldung sind zunehmende Zinssätze und infolge davon sinkende kreditfinanzierte Privatinvestitionen nicht zu erwarten. Zum einen wachsen die Zinssätze nicht automatisch mit der Zunahme der Staatsverschuldung. In den letzten Jahren zeigt sich, dass die Kapitalmarktzinsen trotz enorm steigender Staatsschulden deutlich zurückgegangen sind. Die Fremdfinanzierungszinssätze werden vielmehr durch die niedrigen Inflationserwartungen bestimmt. Hinzu kommt die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank, die auf die Überwindung der privaten Investitionsschwäche zielt.  Zum anderen sind die privaten Investitionen vor allem im Klima der vagabundierenden Geldüberschüsse nicht von der Höhe der Kreditzinsen abhängig. In dieser Konstellation führt die schuldenfinanzierte Finanzpolitik über die Steigerung der effektiven Gesamtnach-frage eher zum Crowding-In, also einer Stärkung der Privatinvestitionen. Gegen den Mythos steht die Wahrheit: Kreditfinanzierte öffentliche Infrastrukturmaßnahmen stärken über die binnenwirtschaftlichen Nachfrageeffekte Unternehmensinvestitionen in der Privatwirtschaft.

Fünftens: Was die neoklassische Kritik an der Staatsverschuldung übersieht, ist die durch die öffentliche Kreditaufnahme bewirkte notwendige Abschöpfung der überschüssigen Geldvermögen. Die Zusammenhänge lassen sich durch die gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung erkennen. Dazu sind die Sektoren private Haushalte, produzierende Wirtschaft (nicht finanzielle Kapitalgesellschaften), Staat und Ausland zu berücksichtigen. Gegenüber dem weit über die Sachinvestitionen hinausgehenden Sparen nicht nur der privaten Haushalte, sondern mittlerweile auch durch die produzierenden Unternehmen wird im Zuge des staatlichen Verzichts auf die Aufnahme öffentlicher Kredite volkswirtschaftliche Ausgaben verzichtet. Anstatt das „Übersparen“ durch kreditfinanzierte öffentliche Investitionsausgaben abzubauen, trägt der deutsche Staat mit seinen Finanzierungsüberschüssen zum Übersparen bei. Die jährliche Nettogeldvermögensbildung der privaten Haushalte sowie auch der nichtfinanziellen Unternehmen wird durch den Staat nicht abgeschöpft. Vielmehr trägt ab 2014 der Gesamtstaat selbst zum Zuwachs des volkswirtschaftlichen Sparens bei.

Die Deutsche Bundesbank zeigt mit ihrer „gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung“, dass seit 2000 die Finanzierungsüberschüsse der nicht-finanziellen Kapitalgesellschaften – hier Produktionsunternehmen genannt – zunehmen (siehe Tabelle „Gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung“).  Die produzierende Unternehmenswirtschaft fällt also als Kreditnehmer gegenüber den Überschüssen in anderen Sektoren der Volkswirtschaft aus. Sie sind also nicht mehr wie früher bereit, einen Teil der Überschüsse der privaten Haushalte per Kredite in Investitionsnachfrage zu transformieren. Allein im Jahr 2016 haben die Produktionsunternehmen bei nur 43,30 Mrd. € Sachvermögensbildung (Nettoinvestitionen) über 128 Mrd. € gespart. Der Finanzierungsüberschuss belief sich auf über 111,88 Mrd. €. Eigenmittel werden im Durchschnitt weniger zur Finanzierung von Sachinvestitionen genutzt. Gesamtwirtschaftlich entscheidend ist, dass seit einigen Jahren zu den riesigen Sparsummen der privaten Haushalte das Sparen der Produktionsunternehmen und neuerdings des Staates dazukommen. Die Folge dieses inländischen Übersparens sind die enorm gewachsenen Verbindlichkeiten der übrigen Welt gegenüber Deutschland. Die steigende Auslandsverschuldung infolge der Nullschuldenstrategie lässt die Exporte im Verhältnis zu den Importen und damit die viel kritisierten Überschüsse der Leistungsbilanz steigen (Rekordniveau 2015 8,9 % bezogen auf das nominale Bruttoinlandsprodukt).

Die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge lehren: Finanzpolitik muss dazu beitragen, dieses gesamtwirtschaftliche Übersparen zu reduzieren: Instrumente sind kreditfinanzierte Investitionen des Staates, aber auch eine Steuerpolitik, die bei den Unternehmen Überschüsse abschöpft. Dadurch würde eine gesamtwirtschaftlich nachhaltige Entwicklung gestärkt und die materielle wie immaterielle, durch den Staat verantwortete Infrastruktur, sichergestellt.

Sechstens: Öffentliche Kredite sind das einzige staatliche Instrument, mit dem künftige Generationen an der Finanzierung staatlicher Investitionen beteiligt werden können. Wenn heute dagegen öffentliche Investitionen aus Steuern bezahlt werden, dann geschieht dies einzig und allein aus der aktuellen Wertschöpfung. Während der Nutzen auch bei künftigen Generationen anfällt, übernimmt die komplette Finanzierungsbelastung nur die heutige Generation. Dagegen wird durch die staatliche Inanspruchnahme der Kreditmärkte die Finanzierung im Zuge der jährlichen Zinszahlungen und Tilgungen auf künftige Generationen verteilt.

Der Nestor der Finanzwissenschaft, Richard A. Musgrave“ (1939 / 1959) verwies auf das „Pay as You Use-Prinzip“, d.h. die künftigen Nutzer sollten an der Finanzierung beteiligt werden. Diese intergenerative Sicht lenkt den Blick auf die Frage, was künftigen Generationen vererbt werden wird. Das vorherrschende Vorurteil gegen die Staatsverschuldung lautet: Durch die öffentliche Kreditaufnahme vererbt die heute verschwenderische Generation schwere Lasten an künftige Generationen. Von moralisch verwerflichem Verhalten ist nicht nur an den Stammtischen die Rede. Gegen diesen konstruierten Generationenkonflikt steht die Tatsache, dass mit sinnvollen öffentlichen Investitionen in die Zukunft nützliches Staatsvermögen vererbt wird. Die künftige Generation ist beispielsweise der Nutznießer von heute veranlassten Investitionen in die Bildungsinfrastruktur und eine bessere Umwelt. Auch die Realisierung moderner Verkehrssysteme schafft der künftigen Generation einen Nutzen. Also, es kommt auf die heutige Verantwortung für öffentliche Investitionen zugunsten der künftigen Generation an. Vererbt wird allerdings ein doppeltes Verteilungsproblem: Zum einen stellt sich die Frage, auf wen sich die staatlichen Vermögenstitel, für die im Prinzip Zinsen ausgeschüttet werden, konzentrieren. Zum anderen ist zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß unterschiedliche soziale Gruppen relativ zum Steueraufkommen beitragen. In Hochzinsphasen war das Verteilungsproblem relevant: Vermögende erzielten hohe Zinsen für ihr Eigentum an Staatstiteln, während die Lohnabhängigen mit den Massensteuern die Zinsausgaben finanzierten. Da von einer anhaltenden Niedrigzinsphase auszugehen ist, entschärft sich der Konflikt.

Siebtens: Die Finanzierung öffentlicher Investitionen durch die Beanspruchung der Kapitalmärkte ist mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der schwarzen Null Bundesländern ab 2020 verboten und beim Bund auf 035% des Bruttoinlandprodukts eingeschränkt worden.  Die zuvor geltende „goldene Regel“ des ehemaligen Artikels 115 Grundgesetz gab den kredtitfinanzierten Staatsinvestitionen einen Verfassungsrang. Nachgebildet ist diese staatliche Investitionsregel der Unternehmenswirtschaft. Bei den Unternehmen wird der Kapitaldienst für die Fremdfinanzierung aus den künftig zu erzielenden Erträgen finanziert, ist also von der erzielten Ertragsrate abhängig. Beim Staat refinanziert sich dagegen die Staatsverschuldung aus der mit den Infrastrukturinvestitionen erzielten, gesamtwirtschaftlichen Ertragsrate, die sich in einem Zuwachs an Steuereinnahmen niederschlägt. Sicherlich war es falsch, auch konsumtive Ausgaben des Staates über Kredite zu finanzieren. Der makroökonomische Sinn der „goldenen Regel“ ist, durch staatliche Kreditaufnahme für Infrastrukturinvestitionen die volkswirtschaftliche Ertragsrate und damit die Steuereinnahmen zu steigern. Immerhin hat der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ in seinem Jahresgutachten 2007 dem Mythos der Staatsschulden, nach dem die „Goldene Regel“ negativ wirkt, widersprochen: „Deutschland zählt dabei zu den Ländern, in denen die Ertragsrate der öffentlichen Investitionen noch vergleichsweise hoch ist und damit die Kreditfinanzierung dieser investiven Ausgaben, wie es die Goldene Regel der Finanzpolitik ermöglicht, durchaus zu rechtfertigen ist.“ Gegenüber einer Politik der Senkung der Unternehmenssteuern ist die gezielte Stärkung des qualitativen Wirtschaftswachstums durch eine gezielte Aufnahme öffentlicher Kredite für Infrastrukturinvestitionen deutlich überlegen. Dagegen hat die Politik der Steuersenkungen durch die rot-grüne Bundesregierung Anfang dieses Jahrtausends mangels Wachstumsimpulsen und damit Steuermehreinnahmen die Staatsschulden nach oben getrieben. Diese abenteuerliche Art der Politik steht gegen die hier dargelegten Argumente für eine gesamtwirtschaftlich rationale Nutzung der öffentlichen Kreditfinanzierung.

3. Schlussfolgerung: Zurück zur „goldenen Regel“


Zehn Jahre Erfahrungen mit einer Finanzpolitik unter dem verselbstständigten Ziel, durch die Schuldenbremse die „schwarze Null“ zu erreichen, zeigen, diese öffentliche Haushaltspolitik ist gescheitert:

* Der schon seit 2003 erkennbare Trend rückläufiger öffentlicher Infrastrukturinvestitionen ist durch die Schuldenbremse beschleunigt worden. Dabei sind nicht einmal im Ausmaß des Kapitalverzehrs (Abschreibungen) Ersatz- und Reparaturinvestitionen realisiert worden. Der öffentliche Kapitalstock ist dadurch geschrumpft. Dafür stehen kaputte Straßen und Brücken sowie beispielsweise Schulen und Gebäude der Universitäten. Beispiele für die volkswirtschaftlichen Schäden sind massive Mobilitätsengpässe und steigende Kosten der Verkehrslogistik aber auch der Frust in den Schulen. Dabei ist heute der Sanierungsbedarf im Bereich der öffentlichen Infrastruktur auf die Schnelle nicht aufhebbar.

* Die Schuldenbremse vor allem auf der Ebene der Länder mit dem Ziel, ab 2020 keine Neuverschuldung durchzusetzen, hat über die Weitergabe der Sparzwänge durch die Länder verheerende Folgen für die ohnehin schon finanzkraftschwachen Kommunen. Der kommunale Investitionsrückstand liegt nach Schätzungen zwischen 2015 und 2017 kumulativ bei 159 Mrd. €. Allein innerhalb der Verkehrsinfrastruktur sind es knapp 39 Mrd. € und bei Schulen über 47 Mrd. €.

* Die Schwäche der öffentlichen Investitionen schlägt über den Verzicht, die binnenwirtschaftliche Nachfrage zu stärken, auf die gebremste Investitionsaktivität der Unternehmenswirtschaft durch. Ökologisch gestaltbare Wachstumsprozente sind verschenkt worden.

* Der permanente Druck des Abbaus der Neuverschuldung hat vor allem zu Kürzungen im Sozialstaat geführt und auch den Druck auf die Steuerpolitik erzeugt.

* Durch den heutigen Verzicht auf kreditfinanzierte Infrastrukturinvestitionen in eine zukunftsfähige Verkehrs- und Bildungspolitik sowie vor allem in Umweltprojekte werden kommenden Generationen belastende Lebens- und Produktionsbedingungen vererbt.

Der Mythos von den wohlstandsstiftenden Segnungen einer „schwarzen Null“ ist aufgeflogen. Die „goldene Regel“, die die staatliche Kreditfinanzierung öffentlicher Investitionen rechtfertigt, sollte finanzpolitisch wieder reaktiviert werden. Dadurch kann die heutige Generation gesamtwirtschaftlich und vor allem ökologisch Verantwortung für künftige Generationen wahrnehmen.


Last modified: Jun 22, 2019