Europäische Zentralbank in der Liquiditätsfalle: Zu den geldpolitischen Entscheidungen am 5. Juni 2014
Die geldpolitischen Beschlüsse der Europäischen Zentralbank bewegen sich zwischen Mut, aber auch Verzweiflung. Die erneute Senkung des Leitzinses von 0,25% auf 0,15% war erwartet und von den Finanzmärkten bereits eingepreist worden. Eine im Vorfeld der Sitzung des EZB-Rates breit diskutierte Maßnahme darf als historisch bezeichnet werden. Künftig müssen die Banken für ihre sehr kurzfristigen Einlagen bei der Euro-Notenbank einen Einlagenzins von 0,1% bezahlen. Geld, das über Nacht auf dem Konto bei der Notenbank landet, ist bei der Auszahlung am nächsten Morgen weniger wert. Künftig wird das Geldhorten durch die Geschäftsbanken bei der Zentralbank bestraft. Diese Maßnahme ist ein historisches Novum. Erstmals in der Geschichte der Geldpolitik schreibt die Bank der Banken einen Minuszinssatz vor. Zu den jüngsten geldpolitischen Beschlüssen gehört auch noch der erneute Einsatz der monetären Kanone „Dicke Bertha“. Wie schon Ende 2011 und Anfang 2012 werden mit der „Dicken Bertha 2.0“ den Banken längerfristige Kredite zu niedrigen Zinsen angeboten. Neu ist die Idee, die langfristige Geldspritze nur den Banken anzubieten, die den Liquiditätszufluss für die Kreditvergabe an Unternehmen außerhalb des Finanzsektors nutzen. Mario Draghi fügte in der Pressekonferenz hinzu, dass die Zentralbank selbst mit ihren unorthodoxen Instrumenten noch nicht am Ende ist. Vorbereitet werden weitere Maßnahmen.
Streit um die Gewinner und Verlierer
Die Reaktionen auf diese
nahezu kostenlose Geldversorgung durch die EZB können nicht unterschiedlicher sein.
Auf den Aktienmärkten kam es kurzfristig zu einem starken Kurssprung. Der DAX für
die 30 wichtigsten börsennotierten Unternehmen in Deutschland knackte nach der Verkündigung
der Beschlüsse die 10.000-Marke. Über diese kurzfristige Reaktion hinaus zeigt sich,
dass durch die anhaltende Geldschwemme der Notenbank in den letzten drei Jahren der
Kursindex der Unternehmen im DAX sich verdoppelt hat. Vernachlässigbare Zinssätze
für Sparbücher und niedrige Renditen auf den Anleihemärkten haben die Bereitschaft
ins Aktienkursrisiko zu gehen, erhöht. Denn die geldpolitisch gewollte Strategie des
Billiggeldes zwingt zu der Erkenntnis: Renditen ohne bzw. mit geringem Risiko sind
passé. Klar ist, der durch die anhaltende Geldschwemme verursachte DAX-Gewinn hat
kaum etwas mit einer realökonomischen Verbesserung der Gewinnchancen der börsennotierten
Unternehmen zu tun. Aktien sind zwar riskanter, aber sie bieten sich auf der Flucht
aus zinsschwindsüchtigen Sparbüchern und Staatsanleihen an. Allerdings hier eine klare
Warnung an die verunsicherten Sparerinnen und Sparer. Wer auf Aktien setzt, der darf
von deren hoch riskanten Erträgen existenziell nicht abhängig sein.
Zu den Gewinnern zählt auch der Schuldenstaat. Die Zinslasten sinken. Der Streit im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags zur begrenzten Neuverschuldung im Bundesbudget 2015 ist mit dem Hinweis auf die sinkende Zinslast entschärft worden. Was heute als Vorteil verbucht wird, kann im Zuge künftiger anziehender Zinsen zum riesigen Risiko der Haushaltspolitik umschlagen.
Diesen risikomutigen, kurzfristigen Gewinnern stehen die Sparerinnen und Sparer als vordergründige Verlierer gegenüber. Sie müssen weiterhin mit realen Vermögensverlusten rechnen. Die derzeitige Rendite bei Sparguthaben – wird die Inflation und Steuer berücksichtigt – fällt negativ auf. Das reale Sparvermögen schrumpft mit negativen Realzinsen bereits längere Zeit. Wie die geplante Anpassung durch die Bundesregierung zeigt, lässt die Niedrigzinspolitik auch den Wert von Lebensversicherungen für die Alterssicherung schrumpfen. Dabei ist über einen längeren Zeitraum mit einem Ausstieg aus dieser Beinah-Nullzinspolitik und damit den realen Vermögensverlusten nicht zu rechnen.
Deflationsgefahr und Kreditklemme im Visier
Dringende Aufklärungsarbeit
über die Motive der EZB ist erforderlich. Aber auch die Erfolgschancen dieser unkonventionellen
Geldpolitik sind bei der Bewertung zu berücksichtigen. Der Ausgangspunkt der schwer
verständlichen geldpolitischen Maßnahmen ist einfach: Das wirtschaftliche Wachstum
im Euroraum ist sehr schwach, ja, von Stagnation ist die Rede. Die Sorge ist groß,
dass sich aus der gesamtwirtschaftlichen Nachfrageschwäche auf breiter Front eine
Deflation, die in einen wirtschaftlichen Abwärtstrend mündet, entsteht. Gegenüber
der monetaristischen Angstmache mit einer sich beschleunigenden Geldentwertung verfügen
die Währungshüter bei Inflationsraten mit derzeit 0,5% im Euroraum und 0,9% in Deutschland
über seriösen Spielraum für ihre expansive Geldpolitik. Eine Deflation wäre, wie Japan
lehrt, eine Katastrophe. Trotz eines massiven Geldüberschusses im Bankensystem wird
nicht investiert und werden Konsumgüter nicht gekauft, weil weiter sinkende Preise
erwartet werden. Die Unternehmensgewinne schrumpfen. Am Ende gehen Arbeitsplätze verloren
und das Volkseinkommen sinkt. Dieses Deflationsgespenst wollen die Euro-Währungshüter
durchbrechen. Im Zentrum steht, geldpolitische Anreize zum Investieren in Produktionsanlagen
und Arbeitsplätze zu setzen. Das kann die Notenbank nicht direkt, sondern nur über
das Bankensystem. Hier entdecken die Währungshüter einen unbestreitbaren Engpass.
Die Banken verhalten sich bei der Kreditvergabe für Unternehmen, die investieren wollen,
restriktiv. Gesamtwirtschaftlich ist die Kreditvergabe rückläufig. Deshalb will die
Notenbank die Kreditvergabe durch Banken mit Niedrigzinsen versüßen. Sicherlich gibt
es für die zurückhaltende Kreditpolitik der Banken viele Gründe. Die Banken stehen
vor allem vor der Aufgabe, beim Stresstest ausreichendes Eigenkapital im Verhältnis
zu den vergebenen Krediten auszuweisen. Banken haben zum Teil viel zu stark die Bedingungen
für eine Kreditvergabe verschärft. Aber auch die Unternehmenswirtschaft außerhalb
des Finanzsystems verhält sich beim Investieren wegen starker Unsicherheiten und pessimistischer
Erwartungen bei der Gewinnrealisierung restriktiv. Schließlich nimmt selbst auch bei
mittleren Unternehmen im Trend der Anteil kreditfinanzierter Investitionen ab. Unter
diesen Bedingungen können geldpolitische Maßnahmen zur Stärkung kreditfinanzierter
Investitionen kaum wirken.
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Eine Zielbewertung der Maßnahmen im Überblick
Die beschlossenen
geldpolitischen Maßnahmen eint das Ziel, die Kreditvergabe durch die Banken und damit
die Investitionsbereitschaft zu stärken. In der Übersicht werden die unterschiedlichen
Instrumente auf das Ziel, die Banken zur Kreditvergabe zu animieren, bewertet:
Leitzinssenkung auf 0,15 Prozent: Diese Minizinssenkung wird nicht dazu führen, dass Banken durch verbilligte Kredite den geldpolitischen Impuls an die Unternehmenswirtschaft weitergeben werden. Hier handelt es sich um reine Symbolpolitik, mit der der Wille zur Politik des billigen Geldes bekräftigt werden soll.
Negativer Einlagenzins mit 0,1 Prozent: Grundsätzlich zeigt sich hier ein Systemwechsel. Banken werden für die Geldhortung bei der EZB erstmals bestraft. Ein Negativzins wurde im Umfang von 0,2 Prozent 2012 durch die dänische Notenbank eingeführt. Es gelang durchaus, die dänische Krone zu stabilisieren. Allerdings haben die Banken die Kosten auf die Geschäftskunden weitergewälzt. Ob dieser Strafzins für Einlagen bei der EZB dazu führt, dass das Geld in die Finanzierung der Kreditvergabe der Banken fließt, ist äußerst zweifelhaft. Allerdings setzt damit die Notenbank ein hartes Signal für weitere unkonventionelle Maßnahmen.
Dicke Bertha 2.0: Um die Kreditvergabe vor allem in Südeuropa anzukurbeln, werden den Banken langfristige Kredite mit einer Laufzeit von rund vier Jahren bei niedriger Verzinsung angeboten. Die Vergabe dieser Kredite will die EZB jedoch an Bedingungen knüpfen. Sichergestellt werden soll, dass das Geld auch für die Kreditvergabe an die Unternehmen eingesetzt wird. Es geht um die Idee eines „Funding for Lending“. Für den September und Dezember wird ein Volumen von 400 Mio. € angepeilt. Das Instrument ist im Falle einer Rezession, die zur Zahlungsunfähigkeit der Banken führen kann, gefährlich. Es entsteht das Risiko, dass die Kredite nicht mehr bedient werden können und die EZB auf der Kreditforderung sitzen bleibt. Durchaus ist damit zu rechnen, dass die Banken in Südeuropa diese Geldspritze annehmen werden. Die Notenbank muss allerdings auf eine Bedingung verzichten: Die Kreditvergabe darf nicht an die Teilnahme am durch den Rettungsfonds vorge-schriebenen Austeritätsprogramm geknüpft werden.
Reaktivierung des ABS-Marktes: Mario Draghi hat bei der Präsentation der jüngsten geldpolitischen Beschlüsse die Wiederbelebung des Marktes für „Asset Backed Securities“ (ABS) angekündigt. Bei diesem Finanzmarktprodukt werden Bankkredite verbrieft und handelbar gemacht. Die EZB erklärt sich bereit, diese verbrieften Unternehmenskredite aufzukaufen bzw. zu beleihen. Diese Politik zur Erleichterung der Kreditvergabe lässt den Verdacht aufkommen, dass die EZB dabei ist, die Lehren aus der Finanzmarktkrise zu verdrängen. ABS-Produkte, oftmals als Giftprodukte bezeichnet, haben die jüngste Finanzmarktkrise angetrie-ben. Sie zeichnen sich durch Intransparenz aus. Die verpackten Risiken sind nicht erkennbar. Die Notenbank würde mit dem Ankauf hochgradige Risiken in ihrer Bilanz positionieren. Sicherlich kommt diese Maßnahme bei den Banken gut an. Wegen der unübersehbaren Risiken auch für die Bilanz der EZB sollte jedoch dieses geldpolitische Geschäft nicht eingesetzt werden.
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Mit expansiver Finanzpolitik aus der Liquiditätsfalle
Wenn
diese Geldpolitik durch den Erfolg steigender Investitionsbereitschaft und wirtschaftlicher
Expansion Erfolg hat, dann erfahren die realen Verluste beim Sparvermögen eine deutliche
Relativierung. Würde die Deflation mit der Gefahr zum sich verstärkenden wirtschaftlichen
Abschwung nicht verhindert, dann wäre mit Einkommens- und Arbeitsplatzverlusten zu
rechnen. Sparer wären davon direkt oder indirekt negativ betroffen. Im schlimmsten
Fall können sie mangels Einkommen nicht mehr sparen. Die Bankenvertreter, die derzeit
die Geldpolitik nur in ihrer negativen Wirkung auf das reale Geldvermögen der Sparer
reduzieren, sind unverantwortlich. Sie blenden die Folgen einer durch restriktive
Geldpolitik verstärkte gesamtwirtschaftliche Rezession aus. Kurzsichtige Interessenpolitik
frisst gesamtwirtschaftlichen Sachverstand auf.
Daher gilt: Diese unorthodoxe Geldpolitik ist nur dann zu rechtfertigen, wenn sie
erfolgreich die Bedingungen des wirtschaftlichen Wachstums und der Jobschaffung verbessert.
Und hier zeigt sich ein tiefgreifendes Dilemma: Einerseits versucht die Bank der Banken
auch mit neuen Instrumenten ihrer gesamtwirtschaftlichen Aufgabe mutig nachzukommen.
Spielraum gibt ihr dazu die niedrige Inflationsrate. Andererseits kann die Notenbank
allein den Durchbruch nicht schaffen. Denn die Euro-Wirtschaft bewegt sich in der
klassischen Liquiditätsfalle. Billiges Geld im Überfluss findet nicht den Weg in die
effektive Nachfrage nach privaten und öffentlichen Investitionen. Die Geldpolitik
kann die Pferde an die Tränke führen, ob sie jedoch saufen, ist unbestimmt. Eine expansive
Finanzpolitik zusammen mit Anreizen für Investoren außerhalb des Finanzsektors sowie
einer Stärkung der Binnennachfrage weisen einen Weg aus dieser Falle. In diese Wachstumsstrategie
lassen sich auch Programme zum Aufbau wirtschaftlicher Strukturen in den Krisenländern
einbetten. Dazu muss die EU den derzeitigen Fiskalpakt, der ohne Rücksicht auf die
Gesamtwirtschaft die öffentliche Neuverschuldung deckelt, ablösen. An die Stelle des
Fiskalpakts rückt eine Fiskalunion, in der koordiniert die wirtschaftlichen Wachstumskräfte
vor allem über notwendige Infrastrukturprojekte gestärkt werden. Mit dieser Strategie
lässt sich über steigende staatliche Einnahmen die Anschubfinanzierung mit Krediten
wieder zurückführen. Wird diese expansive Geldpolitik nicht durch eine Ausweitung
der effektiven Nachfrage gestärkt, dann wird auch diese jüngste Runde geldpolitischer
Intervention keinen Erfolg bringen. Mario Draghi sollte endlich zusammen mit seinen
Rätinnen und Räten auf die Grenzen seiner gut gemeinten Geldpolitik öffentlich hinweisen.
Im Euroland muss die geldpolitische Lückenbüßerfunktion der EZB durch eine komplementäre
Finanzpolitik überwunden und die Gesamtwirtschaft gestärkt werden.