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70 Jahre Soziale Marktwirtschaft: Wachsender Bedeutungsverlust

Sep 23, 2019
Interview taz 20.09.2019: Hermannus Pfeifer mit Rudolf Hickel

Ökonom über Soziale Marktwirtschaft: „Das war ein Kampfbegriff“

Seit sieben Jahrzehnten ist sie Staatsdoktrin. Tatsächlich ist die Erfolgsstory der Sozialen Marktwirtschaft Etikettenschwindel, sagt Rudolf Hickel.

taz: Sie werfen Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und auch Ökonomen-Kollegen, die sich ständig auf die Soziale Marktwirtschaft berufen, vor, dennoch grundlegende Paradigmen der Sozialen Marktwirtschaft zu ignorieren. Sie sprechen vom Etikettenschwindel.

Hickel
Ja! Die Lektüre des Beitrags „Soziale Marktwirtschaft“ durch den Nestor Alfred Müller-Armack im „Handwörterbuch für Sozialwissenschaften“ von 1956 zeigt, heute ist die sozialstaatliche Absicherung der von Arbeitsplätzen Abhängigen durchlöchert. Es grenzt an Zynismus, dass angesichts der heute vorherrschenden sozialen Spaltung die Soziale Marktwirtschaft als Erfolgsstory proklamiert wird. Das ist weit über den Mythos hinaus ein schlichter Etikettenschwindel. Vergessen wird, die Soziale Marktwirtschaft ist war ein tauglicher Kampfbegriff gegenüber der Produktion sozialer Risiken zu Lasten der Lohnabhängigen. Kapitalismus sozial temperieren, das war die westdeutsche Systemalternative gegen den völlig überschätzten DDR-Sozialismus. Übrigens gilt die Anerkennung Alfred Müller-Armack, aber auch dem Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning. Im Widerspruch zum Wohlstandsmythos, Ludwig Erhard war eher der Bremser. Für ihn war Soziale Marktwirtschaf ein Pleonasmus, das heißt, die Märkte seien aus sich heraus sozial genug.

Im Mittelpunkt der Sozialen Marktwirtschaft stehen zwei Prinzipen, die heute Großteiles ausgehebelt sind: Wer sein Arbeitseinkommen unverschuldet als Folge von Krisen verliert, der wird durch das gesetzliche System etwa die Arbeitslosenversicherung aufgefangen. Das gilt spätestens seit der Agenda 2010 im Prinzip nicht mehr. Arbeitslose werden Großteils zu Tätern gestempelt. Ihnen wird für das Systemrisiko individuell der Preis Lohnverzicht und prekäre Arbeitsverhältnisse abverlangt. Auch das zweite Prinzip ist zum Teil ausgehebelt worden: Wer durch den Verlust der Lohnarbeit sozial in Not gerät, der kann sich daraus nicht mit eigener Kraft mangels vorhandener Einkommen befreien. Dieses Prinzip hat die Schröder/Riester-Rentenpolitik mit dem Druck, eine eigene Teilkapitalvorsorge zu finanzieren, beschädigt. Also, 70 Jahre Soziale Marktwirtschaft sollten genutzt werden, diese neu zu buchstabieren und gegen die soziale Spaltung wieder lösungsfähig zu machen.

Warum ist denn die Soziale Marktwirtschaft – obwohl das Bruttoinlandsprodukt seit einem Jahrzehnt wächst – seit der Finanzkrise noch tiefer in die Krise geraten?

Die Soziale Marktwirtschaft war nie ein überhistorisch geltendes Modell. Sie musste sich unter neuen Herausforderungen immer wieder neu definieren. Dafür steht der deutsche Keynesianismus in den 1960er Jahren, mit dem die Globalsteuerung zur Vermeidung ökonomischer Krisen auf den Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft aufgestockt wurde. Heute sind es die ökologischen Herausforderungen. Da reicht es nicht, das Etikett sozial mit ökologisch zu ergänzen. Rückblickend konnte das Ordnungssystem seine Leistungskraft nicht unter Beweis stellen. Der neoklassische Marktfundamentalismus mit dem Profitmotiv hat schon seit Mitte der 1970er Jahre die Soziale Marktwirtschaft blamiert. Wenn heute die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft die Soziale Marktwirtschaft predigt, dann ist das unseriös. Sie hat mit ihrer Deregulierungsoffensive den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus forciert. Marktversagen mit tiefen Krisen sind die Folge. Dazu gehört die neoliberale Paradoxie des Verzichts auf eine Bekämpfung der monopolistischen Markt-Macht gerade auch auf den Finanzmärkten. Hätten die Prinzipien der Soziale Marktwirtschaft regiert, hätten die Exzesse des deregulierten Kasinokapitalismus vermieden werden können.

Heute droht der deutschen Wirtschaft eine Rezession. Sollte nicht gerade darum aus dem Mythos wieder eine Soziale Marktwirtschaft werden und wie?

Soziale Marktwirtschaft muss gegenüber den sich verändernden Herausforderungen immer wieder neu definiert werden. Die drohende Rezession in Deutschland zeigt, dass der Staat zumindest gegen die binnenwirtschaftlichen Fehlentwicklungen mit einem öffentlichen Investitionsprogramm vorgehen muss. Basis ist der ökologische Umbau der Wirtschaft. Das ursprüngliche Konzept der Soziale Marktwirtschaft war ökologisch blind, ja mit den heute hochgelobten Wirtschaftswunderjahren sind heute spürbare Umweltbelastungen ausgelöst worden.

Die ökologische Ausrichtung lässt sich mit viel Mut in die Soziale Marktwirtschaft einbauen. Wie gesagt, die Idee, Märkte ordnungspolitisch sozial und ökologisch einzubetten, muss weiterentwickelt werden. Drei Gesetze wünsche ich mir:

* Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 sollte reformiert werden mit den Zielen, die Sozialstaatsprinzipien wiederherzustellen und die staatliche Verantwortung für die Stabilisierung einer nachhaltigen Entwicklung makroökonomisch zusichern.

* Ein ernst zunehmendes Gesetz gegen Machtkonzentration auf monopolistischen Märkten sollte die schon lange nicht mehr geltende Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs auch zugunsten der kleinen und mittleren Unternehmen als Basis der Sozialen Marktwirtschaft erst einmal wiederherstellen.

* Die Prinzipien der Unternehmensverfassung gegen Machtmissbrauch und kriminelle Anfälligkeit – siehe Dieselskandal und einige Banken – sind auch durch den Ausbau der Mitbestimmung die mikroökonomische Basis der Sozialen Marktwirtschaft zu stärken.

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Kurze Fassung in der taz vom 20.09.2019:
https://taz.de/Oekonom-ueber-Soziale-Marktwirtschaft/!5627461

Last modified: Sep 23, 2019